Ja nicht ja

Ostern 2018

Eginald
Schlattner
für Walther Gottfried Seidner zum 80.

Ja nicht ja

securitateRumänien hat die kommunistische Tyrannei durch eine blutige Revolution abgeschüttelt, Dezember 1989, als einziges Ostblockland. Über tausend Tote. Und kein Täter. Dazu über fünftausend Verwundete. Es floss Blut und es flossen Tränen.
Das ganze Land harrte der Hinrichtung des Ehepaars, das Land und Leute terrorisiert und ruiniert hatte. Zwei Menschen, die die letzten Jahre der Armseligkeit erprobt hatten, die Untertanen selbst biologisch zu Grunde zu richteten. Über Jahre, ja zwei Jahrzehnte hindurch, gab es kaum das tägliche Brot, Milch und Honig war den Kindern allein bekannt aus den Märchen, die Öfen gefroren im Winter und verordnete Finsternis herrschte in den Häusern und Hütten.
Um Heilig Abend war es, ob in Küchen und Kirchen, wir fieberten dem Augenblick entgegen, wo es geschehen sein würde. Und als am ersten Weihnachtstag – bitte, der Menschensohn ward geboren im Stall zu Bethlehem – die Szene vom elenden Ende des hochgejubelten Paares über den Bildschirm flimmerten, ging ein Aufschrei erlöster Angst über das Land. Die zwei niedergemähten Leichname, sie lagen am Boden. Das grässliche Bild gemahnte, wie man tollwütigen Hunden den Garaus macht. Die hin befohlenen Soldaten, namenlos bis heute, konnten nicht an sich halten, befallen von Heidenangst, und schossen drauflos, noch ehe man die beiden an die Wand gestellt hatte.

In Hermannstadt hörte das Gewehrgeknatter dunkler Terroristen erst zu Neujahr um
Mitternacht auf. Ein evangelischer Soldat wurde getötet. Ein evangelischer Geistlicher und eine evangelische Schülerin wurden verwundet. Eine Kugel verfing sich im Fensterrahmen des evangelischen Bischofspalais, abgefeuert vom Dach gegenüber.
Noch wurde geschossen, da verabschiedete das Bischofsamt eine Schulderklärung der Evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses in Rumänen.

Mitte Januar trafen wir Pfarrer uns wie üblich zu unserer monatlichen Versammlung. Noch waren wir im Hermannstädter Kapitel über fünfzig Pfarrer. Nicht gerade, dass an dem langen Konferenztisch einer dem anderen auf dem Schoß saß, aber nahezu. Es gab ein ärgerliches Gedrängel.
Und da ein Pfarrer auf seinem abgeschiedenen Pfarrhof und in seiner Kirchengemeinde Wer ist, gewohnt, ja gewöhnt, der erste und einzige zu sein, so fühlte man sich bei diesen Zusammenkünften gestört. Wo man plötzlich nicht mehr Wer war, sondern irgendwer. Ein X-beliebiger unter Seinesgleichen. Wobei ich tröstete: „Liebe Amtsbrüder, in einem Jahr wird sich das alles hochbequem anlassen.“ Und so war es: Im darauffolgenden Jahr waren wir nur noch ein schütterer Haufen.

Bei dieser amtlichen Zusammenkunft schien alles wie sonst. Und nichts war wie einst. Schon dass der Kultusbeauftragte, letztendlich das Argusauge der Securitate, nicht anwesend war – es wirkte beinahe unheimlich. Nicht mehr dabei war, der sonst still und stumm dasaß, solange das obligate „staatsbürgerliche Erziehungsreferat“ von einem von uns heruntergehaspelt wurde. Auf Deutsch. So dass dessen wichtigste Teile der Dechant dem ungebetenen Gast ins Ohr übersetzen musste. Jedoch strikt wurde von der kommunistischen Kultusbehörde eingehalten, dass in unserer Kirche laut Gesetz die Amtssprache und Verkündigungssprache deutsch war. Nach getaner Arbeit erhob sich der sanftmütige Herr wortlos, grüßte höflich, ließ sich im Sekretariat von der Dekanats-Apotheke die ausländischen Medikamente für die Schwiegermutter reichen und ging seines Weges.
Es folgte die Morgenandacht, die im Januar jedesmal der Dechant in eigener Person hielt. Der bedachte Text lautete „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch irgend eine andere Kreatur uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn!“
Wie wahr. Einige nickten, als ob sie die jungfräuliche Wahrheit langsam begriffen. Wie wahr!

Mich hatte unser damaliger Bischof seinerzeit aufgefordert, als ehemaligen Ingenieur ein Referat auszuarbeiten über den Stand der Produktion an Elektrizität in der Sozialistischen Republik Rumänien. Die letzten verheerenden einundzwanzig Jahre des Regimes war es an der Spitze der Kirche Bischof D. Albert Klein. Mit dem Referat tingelte ich durch die fünf Dekanate. Jedesmal hörte ein anderer Aufpasser des Kultusministeriums zu. Überall bekam ich gut zu essen. Aber nicht jederort wurde mir das Benzin bezahlt. Vergessen wir nicht: Dazumal gab es Monate, wo der Staat uns, den Autofahrern, 15 (fünfzehn) Liter Sprit im Monat zuwies. Einmal musste ich dafür 11 (elf) Tage und Nächte anstehen.
In meinem Referat kritisierte ich nicht, Gott bewahre, die katastrophale Lage der Energieversorgung des Vaterlandes. Nein! Aber ich führte offizielle Zahlen so an, dass der Zuhörer, wenn jemand überhaupt zuhörte, sich selbst ein Bild machen konnte über das, was wir wussten und spürten: Der Staat war mit seiner Produktion von Elektrizität am Finetti. Was ich aber an der amtlichen Statistik betonte war, dass die Haushalte insgesamt nur das Winzige von einem Prozent an Elektrizität verbrauchten. Ich sprach es zwar nicht aus, aber ich sprach es an, wie falsch und abwegig es sei, wenn Abend für Abend Bukarest der ganzen Republik den Lichthahn abdrehte, alle Häuser in Finsternis versanken. Es war für jeden der Zuhörer ersichtlich, dass mit dieser drastischen Maßnahme an nichts gespart werden konnte, es sich folglich um reine Schikane des Regimes handeln müsse.
Bis auf den Bezirk Kronstadt nahmen alle Zuhörer meine beflissenen Ausführungen schweigend zu Kenntnis. Man war erleichtert, wenn der bestellte Parteiobere, höflich verabschiedet vom Dechanten, den Hut nahm. Den Hut! Die Zeit der proletarischen Arbeitermützen für Amtsträger war mit Nikita Chruschtschow vorbei. Man hatte sich gemausert.
Doch der Kronstädter Kultusbeamte ließ ein Wort fallen, er war ein Ungar und sprach deutsch, hörte auf den suggestiven Namen Duldner, Genosse Duldner: Das habe ich listig hinbekommen, anzudeuten, ja zu beweisen, dass es wenig Sinn habe, Abend für Abend das Licht im Land abzuschalten. Der elektrische Strom habe etwas Demokratisches an sich: Fehle zum Beispiel das Licht landesweit, so betreffe das alle als Ärgernis, Hütten und Paläste, und vor allem ohne Unterschied der Sprache und Volkszugehörigkeit, der Rasse und Religion, wie es in der sozialistischen Verfassung steht. Genosse Duldner reichte mir sogar die Hand. Die ich nahm. Aber nicht schüttelte.
So ging es auch in unseren Predigten zu: Wir traten nicht gegen das Regime an mit seinem philosophisch grundierten Atheismus. Schon als lutherische Kirche der Obrigkeit nicht. Aber wir Pfarrer behaupteten fest und steif auf der Kanzel, Gott lasse sich nicht und nimmermehr aus der Welt drängen. Was sich schlussendlich als wahr und richtig erwies. Weit mehr: Seit dem Sturz der Diktatur sind hierzulande über tausend Kirchen und Klöster gebaut worden, gewiss: orthodoxe!
Unsere Kirchen dagegen haben sich geleert. Allein noch die Steine schreien, wie es die Bibel verheißt. Die Gläubigen sind nach Deutschland gegangen. Ethnische Selbstsäuberung. Ob sie auch den siebenbürgischen Gott mitgenommen haben, der uns Sachsen 850 Jahre lang beschützt und begleitet hat? Ich weiß es nicht.
Aber jeden Sonntag halte ich vor den leergepredigten Bänken einen vollständigen Gottesdienst, mit allem Drum und Dran: mit Singen, Sagen, Segnen. Das geschieht, um mich zu trösten. Und auch um Gott zu trösten, Gott, der seit 1225 Sonntag für Sonntag bedient worden ist mit einer Liturgie in unserer Muttersprache.

Nach der Morgenandacht sagte der Dechant in seiner lakonisch ironischen Manier das weitere Programm der Pastoralkonferenz an: „Und nun beginnen wir wie schon immer unsere Arbeitssitzung mit einer großen Kaffeepause!“ Er war ein Bauernsohn aus dem Kaltwassertal. Jüngst hatte er mich belobigt: „Für einen Städter fährts du genug gut Auto!“ Was wir am Dechanten würdigten und fürchteten war, dass er nichts durchgehen ließ, was mit Schlendrian zusammenhing. Eisern rief er Pfarrer zur Ordnung auf, die bis Mittag schliefen, manchmal sogar den Gottesdienst am Sonntag verschliefen. Auch das gab es – als seltene und erstaunliche Ausnahme. Oder den Gottesdienst auf eine genehme Stunde verschoben, weil sie als Schiedsrichter am Sonntagvormittag die Dorfmannschaft beim Fußball abpfiffen. Noch weniger erwarben die Übereifrigen sein Wohlgefallen. Mit nichts hatte er am Hut, wenn der Pfarrer Samuel Kaiser von Forkeschdorf bereits während der ersten Pastoralkonferenz, eben Mitte Januar, heiter verkündete, dass er alle zweiundfünfzig Predigten für die Sonntage des Kirchenjahres aufgeschrieben habe und diese fein säuberlich geordnet bereitlägen von Epiphanias bis Advent. Und die Predigten für die Hochfeste gingen ihm noch leichter von der Hand: „Wie mein biederer Kurator sagt: ‚Herr Pfarr, es ist immer alles eins: Die Geburt in einem Stall und das Grab ohne die Leich!‘ Wie wahr.“ Wie wahr: Zur Barmherzigkeit gehört nicht nur Herz, sondern auch demütige Strenge. Dagegen war der Dechant mit Herz und Hand, Leib und Seele zur Stelle, wenn es um die fleißigen Mitbrüder ging – also immerdar (Amtsschwestern erlaubte das Regime keine).

Und es platzte die Bombe. Ein Schock war es, als in dieser Pastoralkonferenz nach dem Fall der Diktatur unser Dechant Michael Schuller nahezu fahrlässig, wie es uns schien, über unsere erschrockenen Köpfe hinweg fragte, ja es anordnete:
„Jetzt steht jeder auf, der hauptamtlich für die Securitate gearbeitet hat?“
Es entfiel manch einem Finger der flaumige Striezel, nach alter Sitte im ersten Monat spendiert von der Frau des Dechanten.
Er sprach das verfemte Wort „Securitate“ laut und achtlos aus. Wir schielten zur Tür, gewärtig, dass die Securitate eintreten werde und den so unbesonnenen Mann abführen werde.
Noch waren unsere Gemüter gedrosselt vom Bann der Diktatur. Noch hatten wir die beschwerliche Freiheit nicht begriffen, die über uns mit Gewehrsalven hereingebrochen war.
Und nicht begriffen, was damit gegeben ist: Dass beim offenherzigen Reden nicht mehr die Securitate hereinhorchte.
Pfarrer Walther Gottfried Seidner, bekannt als „Voltaire“ – von Walter? -, sprach es aus und machte so Mut zur plötzlichen Ungezwungenheit im Denken; und im Reden: „Der Securitate ist ein für allemal der Mund gestopft. Deren Vorzug war es, dass sie das Gehörte im Geheimfach für sich behielt. Doch Vorsicht, Brüder im Amt! Schlimmeres steht an: Die geknebelte Presse wird ihr Maul aufreißen, wird lechzend die Ohren spitzen, einem das Wort im Mund umdrehen und es auch noch an die große Glocke hängen. Voltaire, bis heute geschätzt und bewundert als Wortkünstler der Meisterklasse, ein Könner kniffligen Wortwitzigkeiten, ein Lehrherr verbaler Spitzfindigkeiten und Verfasser launiger und schnurriger Reimkarikaturen: Eher ein Wilhelm Busch Siebenbürgens.

Dass Dechant Michael Schuller zur Zeit der Diktatur ein verwegener Mann gewesen war, wusste man und quittierte es mit einem respektvollen Schaudern. Er hatte es gewagt, einem ranghohen Securitate-Offizier die Tür zu weisen. Hatte die selbstmörderische Kühnheit besessen, einen Major, als der ihn in seinem Amtssitz aufsuchte, vor die Tür zu setzen, sogar ohne sich hinter seinem Schreibtisch zu erheben. Kühl habe der Dechant ihm bedeutet, er möge sofort sein Büro verlassen! Denn, obschon Offizier, habe dieser ihn angelogen, als er ihm hoch und heilig versprochen hatte, er könne sicher auf den Besuchspass rechnen.
Für diese Tat hat Dechant Misch Schuller das Bundesdeutsche Verdienstkreuz am Bande erhalten!
Der Offizier ging. Ohne den Dechanten mitzunehmen.

Nochmals! Wer für die jäh abgehalfterte Securitate gearbeitet hatte? Solches die ungeschminkte Frage des Dechanten. Dieser musste im Bilde sein. Keiner getraute sich den anderen anzusehen.
Bis zu uns nach Siebenbürgen, durch den Eisernen Vorhang hindurch, war es gedrungen, was unter den ausgewanderten Landsleuten kursierte: Dass sich jeder Pfarrer unserer Kirche bis zum Bischof hinauf gemein gemacht habe mit den Machenschaften der Securitate, ja weit mehr: man habe sich als Informant von dieser Maschinerie der Nötigung anheuern lassen.
Selbst in der Bundesrepublik angekommene Pfarrer hatten in dieses Horn gestoßen. Bis ein deutscher Bischof ihnen in die Parade gefahren war mit der stimmigen Feststellung: „Wenn alle, dann auch Sie, werter Amtsbruder!“
Wahr ist: Die ganze, lange Zeit der Diktatur wurde jeder von uns Pfarrern aus der Schattenwelt beschattet, gewärtig das sich daraus ein Schatten löste und ihn bedrängt, erpresst, kleinkriegt, zwingt, festnagelt.
Ferner: Jeder hat vor diesem Auto panische Angst gehabt, das in einem Gedicht von Oskar Pastior genannt wird, wie es verschwiegen vor dem gegenüberliegenden Haus hält, ehe es sich entscheidet: Gilt es mir? Gilt es nicht mir! Jeder hat voll Bangigkeit auf die fremde rumänischen Männerstimme im Telefon gehorcht: rufen sie dich? Rufen sie nicht!… Und manchmal ein jähe Scheu gehabt vor dem ‚besten Freund‘, der am besten Bescheid weiß…

Darf ich es so sagen: Ich hatte das ‚Glück‘ 1957 von der Securitate verhaftet zu werden und zu verschwinden, ehe ich vorher von der Securitate drangsaliert worden war.
20 Jahre später, schon in der Zeit von Nicolae Ceausescu, stand das ominöse Auto vor meinem Haus in Freck, das Oskar Pastior in seinem Gedicht voller Schrecken besingt. Es war dies die zweite Periode der Diktatur in Rumänien, ab 1965, wo es offiziell keine politischen Häftlinge mehr gab. Und wenn, dann saßen sie als Hooligans im Gefängnis, Freiwild für die Mithäftlinge.
Über ein Jahr lang bin ich von einem Căpitan de Securitate, der sich als Inginer Constantin ansprechen ließ, verfolgt worden, dass mir Hören und Sehen vergangen ist. Dazu jeden Tag die Angst im Nacken: Jetzt kommt er, jetzt rufen sie dich.
In der Zeit absoluter Wohnungsnot in den Städten der Sozialistischen Republik hatte die Securitate in Hermannstadt konspirative Wohnungen noch und noch. Sogar in meinem Haus in Freck wurde ich bedrängt.
Doch das, was ich Frau und Tochter und Brüdern und Schwägerinnen ans Herz gelegt habe: Nein und NEIN und Nein, nein, nicht einmal eine Telefonnummer sich zustecken lassen, auf Teufel komm heraus: Dies NEIN hat gewirkt. Zuletzt schrieb ich an die Securitate einen Brief: Was immer die Folgen sein mögen, mich wird man als Mitarbeiter nicht gewinnen, „selbst wenn die schwarze Sonne über mir aufgeht“ (wie über Grigori Melekhow in Scholochows Der Stille Don). Nachher gaben sie Ruhe.
Es war die Zeit, wo mir diese Mitarbeit bei der Securitate als hohe Ehre angedient wurde, man bewege sich in bester Gesellschaft von Akademikern und Persönlichkeiten, sogar kirchliche Würdenträger sähen das Vaterland in Gefahr und hielten es für ihre patriotische Pflicht, die Sicherheitsorgane zu unterstützen.
Es war aber auch die Zeit – die ganze Zeit der Diktatur übrigens -, wo man seine konfirmierte Tochter nicht nur aufmerksam machen musste, was zu tun sei, wenn ein Bursche ihr zu ungebärdig auf den Leib rücke. Sondern man musste Söhne und Töchter instruieren, wie sie sich zu verhalten haben, wenn die Securitate sich über sie tut. Das Rezept eben: Nein, auf Teufel komm heraus.
Oder: Ja nicht ja! Gott hilf!
Ich habe das mit unserer Tochter geübt, ein Szenario, dass sich genau so abgespielt hat:
Deine Klassenlehrerin ruft dich aus der Stunde: Zum Direktor. Der Direktor sagt kurz und bündig: Jemand will dich sprechen.
Im Nebenraum zwei Herren, unauffällig aber teuer gekleidet, Anzüge, Hemd, Krawatte. Sieh ihnen auf die Schuhe. Romarta-Schuhe. Ein Schuh soviel wert wie das Monatsgehalt deiner Mutter.
Die Herren:
Numero 1: Niemand darf von diesem Gespräch erfahren.
Numero 2: Zuckerbrot!
Nummer 3: Peitsche.
Das Procedere eventuell mehrmals.
Du antwortest stereotyp und stoisch: Nein! Nein! Nein!
Wenn es dir zu dumm wird, sagst du dann dieses: Ich werde alles meinem Vater berichten, der Pfarrer ist. Und der wird es dem Bischof weitermelden.
Dann hörst du nur noch eines: Hier, unsere Telefonnummer, wenn dir etwas einfällt. Du lehnst ab.
Statt la revedere heißt es zum Abschied für immer: Auf das nächste Mal!
Genau so geschehen.
Somit gibt es weder von mir, noch von meiner Frau, noch von unserer Tochter, die, wenn auch milde, hergenommen worden sind, sogenannte ’note informative‘. Man kann alle Dossiers der rum. ‚Gauck‘-Behörde öffnen. Von uns, von mir liegt nichts über andere vor.

Der Dechant hieß die, die …noch hatten wir keinen Namen für diese Amtsbrüder parat – , hieß aufstehen diejenigen, die für die Securitate „hauptamtlich“ gearbeitet hatten. Er kannte sie mit Namen. Jetzt blickten wir uns um, ließen scheu die Augen schweifen. Und waren erstaunt, wie viele es an der Zahl waren:
Einer erhob sich, ein einziger stand auf!
Es war ein junger Kollege, hatte Frau und Kind, der Vater und die Schwiegermutter bereits in Deutschland, so hieß es, ein lieber Kerl, den wir gerne hatten, mit dem wir scherzten und beteten. Und sagte, sagte, was wir hörten. Er sagte es ganz ruhig, ohne der Stimme einen Klang zu geben:
Er habe diesen Dienst von seinem Vater übernommen, nachdem der nach Deutschland übergesiedelt sei!
Übergesiedelt: Als wechsele man die Straßenseite, wo man jahrelang auf den Ausreisepass warten musste.
Und sagte: Einer musste es ja sein. Und sagte: „Ihr könnt froh sein und könnt mir dankbar sein, dass ich es war. Sonst hätte es einer von euch sein müssen!“ Seine umfassende Handbewegung streifte jeden von uns, die wir uns duckten.
„Ich habe euch geschont, soweit Ihr nicht selbst zu vorwitzig in eurem Gerede gewesen seid“, ‚vorwitzig‘, sagte er, „und ihr euch in eurer Nörgelei nicht übernommen habt. Und, erinnert euch, Ihr Brüder, im Kränzchen, wenn eure Frauen über das Regime herfielen, bin ich hinausgegangen und habe eine Zigarette geraucht!“ Kein Wort fiel. Was sagen? Sagt an! Was sagen? Bedanken! Wir sagten nichts.

Zwei waren es im Ganzen es gewesen. Doch der andere war bereits in der Bundesrepublik. Was für einen Gewinn konnte die Securitate von diesem haben, mit einer Kirchengemeinde am äußersten Rande des Bezirks? Wunderten wir uns. Voltaire brachte es auf den Punkt.. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott sieht das Herz an!“ Geblieben war bis zuletzt einer. Vor dem blutigen Ende gab die Securitate sich genügsam.
Nach einem Gottesdienst, ich sehe die Szene vor mir, stürzte ein Major der Securitate auf mich zu, händeringend, der ich, wie es das „Recht“ erheischt, als letzter aus der Kirche gekommen war, hinter dem letzten Kindergartenbuben. „Wie, nur so wenige in der Kirche?“ Dabei waren es viele. „Trommelt sie alle zusammen. Wir sind nicht mehr imstande, das Volk im Zaum zu halten!“ Frei heraus gesagt, und nicht einmal sah er sich um.
Und noch selbstgenügsamer war die Securitate, als der Volkszorn die hohen Militärs vor das Freie Fernsehen zerrte: Keiner wollte es gewesen sein. Alle hatte nur als Installateure die geheimen Klos im sinistren Gebäude der politischen Polizei instandgehalten.

Der Dechant ging zum nächsten Punkt über.
„Und nun heraus, was jeder von der Securitate hat schlucken müssen! Es hört uns kein verborgenes Ohr zu!“ Er wusste in allem Bescheid.
Wir begriffen: Die Zeit der Furchtsamkeit ist vorbei, wo man nach jedem lautem Satz prüfen musste, ob man nicht zu vorlaut gewesen sei.
Und nun kam es zu einem vulkanischen Wortgewitter, wo einer und jeder sich zu Wort meldete, dem anderen ins Wort fiel, ihm das Wort entriss. Ich selbst hielt mich mit meiner Geschichte zurück, von der nur meine Frau wusste.
Keiner, den die Securitate nicht berannt hatte. Und schändlich bedroht, weil er sich verweigerte, nein sagte, nein und nein: und ja nicht ja! Rettung war für viele der Pfarrer unser Bischof gewesen. Dem sie sich, in die Ecke getrieben, anvertraut hatten. Und der es vermochte, unser Bischof, den armen, gestoßenen Seelen Ruhe zu schaffen. So dass man weiterhin im Gemüt unbehelligt zum Herbst seine Nüsse klauben konnte und am Sonntag wacker das Wort Gottes verkündigen.

Man wusste etwa, bitte, über so etwas redete man nicht, ja man flüsterte kaum, aber man wusste es trotzdem, dass einmal im Monat der „schöne Manfred“ im Bischofshaus vorstellig wurde, ein junger Major der Securitate, der fließend deutsch sprach, hatte er doch das Brukenthallyzeum besucht. Man vergesse nicht: Zuletzt hatte jeder Kindergarten seinen Schutzpatron von der Securitate.
Die Vorzimmerdame des Bischofs hatte Order, niemanden im Mantel in das Kabinett hereinzulassen. Wollte man zum Bischof, musste man die Überkleidung ablegen.
Als der Major Manfred sich lächelnd weigerte, abzulegen, entsteißte die energische Sekretärin dem Besucher den Uniformmantel. Wobei, wie dann doch ausgeplaudert wurde, dem Securitate-Offizier die Pistole entglitt und zu Boden fiel. Die Dame im Amt hob sie mit spitzen Fingern auf, und er verwahrte sie, verwahrte sie wo? Im Mantel, der in der Garderobe blieb.
Dem Besucher aus der duklen Unterwelt bedeutete der Bischof man möge ihn in Kenntnis setzen, wenn ein Pfarrer über die Stränge schlüge, ehe man ihm zu Leibe rückte. Man möge ihn benachrichtigen, was der Securitate so zum Ärgernis gereiche.
Merkt an, die Rollen sind vertauscht.
Der Hohe Herr (eines seiner Titel) werde die Sache mit dem ins Visier genommenen Pfarrer bereinigen.
Der Bischof hat in jenen beschädigten Zeiten über uns alle und über jeden von uns schützend die Hand gehalten.

In solcher Sache kam der Bischof mit seiner Frau, Doktor Maria, heraus nach Rothberg. Die Herrschaften hatten sich zum Tee angesagt. Nach der Teestunde bat er mich in das Musikzimmer, Musikzimmer, meine Frau besaß zwei Klaviere, und eröffnete mir, dass die Securitate mit mir höchlich unzufrieden sei!
Ich halte mich nicht an das Gesetz, das jedem Einheimischen unter Strafe verbiete, Ausländer zu beherbergen, soweit sie nicht Verwandte ersten Grades seien. Und noch schlimmer: Ich nehme wahllos jeden Ausländer auf, selbst zur Nacht. Aber die Höhe! Ich schreibe keine Berichte über diese Begegnungen, keine Berichte und nie, wie verlangt.
Ich antwortete: „Lassen Sie die Herren von der Securitate wissen, hochwürdiger Herr Bischof, dass ich mich strikt an das Gesetz halte: Ich beherberge nur Schwestern und Brüder.“ Der Hohe Herr hob für einen Augenblick erstaunt das Haupt, als wolle er fragen: „So viele Brüder und Schwestern?“ Und nickte ergeben.
„Und mit den Gästen unterhalte ich mich allein über das ewige Leben, verständlich – als Pfarrer. Von keinerlei Bedeutung für die irdischen Belange eines atheistischen Landes.“
Ins Gästebuch trug der Bischof ein:
„Ich bin guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s vollenden bis an den Tag Christi Jesu.“
Ich fuhr im „guten Werk“ unverdrossen fort wie bisher, unterstützt und beschirmt von meiner Frau Susanna Dorothea: Alle, die auf dem Pfarrhof anklopften, betrachteten wir als Bruder und Schwester.
Und ich verweigerte weiterhin jeglichen Report über Gäste.
Ich machte weiter, obschon ich sicher ging, die Securitate werde mich rufen und mir den Kopf waschen, mir die Leviten lesen; wenn nicht ärger. Nach zwei Jahren und zwei Tagen Zellenhaft im Gewahrsam der Securitate in Stalinstadt ehemals machte ich mich auf alles gefasst.
Nichts geschah, es geschah nichts!

Selbst an die Freiheit muss man sich gewöhnen. Wir gewöhnten uns ruckartig, damals Mitte Januar 1990, bei der ersten ungehinderten Pfarrerversammlung, ohne Aufpasser von außen und geheimen Spähern in den eigenen Reihen.
Plötzlich brach das schwerwiegend Verschwiegene aus jedem heraus. Man konnte kaum mit dem Zuhören folgen. Wenn sich auch bald parallele Muster herausstellten. Zuhören – eine Weise der Zärtlichkeit? Wenn, eher der Barmherzigkeit. Und der Höflichkeit allzumal.
Jeder Pfarrer berichtete fieberhaft und ähnlich von der gaunerhaften Aufdringlichkeit, von der Zudringlichkeit der Securitate. Keiner, aber auch keiner, wurde von den Dunkelmännern verschont. Und sie entkamen, entrannen durch das bebende Nein! Je weiter von der Haupt- und Hermannstadt im Amt, umso eher. Am ehesten im Krautwinkel, knapp hinter Gottes Angesicht. Dort war für die Securitate wenig zu holen, weil es dortselbst mehr Kraut als Leute gab. Und Kraut zog nicht.

Es meldete sich zu Wort WaltherGottfried Seidner, bekannt als Voltaire von eh und je. Bekannter als Wilhelm Busch von Siebenbürgen. Wir erwarteten die Offenbarung eines seiner virtuosen Wortgebilde, ein Wortspiel gewagter Sprachakrobatik. Vielleicht dass er bereits in verwegenen und gewagten Metaphern das neue Statut des Landes besungen hatte.
So war es mit ihm: Geriet ihm ein Wort zwischen die Finger, gelangte ein Wort ihm in die Hand, wurde ihm ein Wort auf die Zunge gelegt oder schnappte er es im Fluge auf, es wurde daraus eine Neuschöpfung, so dass sich das ursprüngliche Wort selbst nicht erkannte. Auch in anderem war er begnadet: Er wartete mit Reimgebilden auf von bodenlosen Bildern und Vergleichen, wo in schnurrigster und geistreicher Manier Menschliches und Allzumenschliches aufs Korn genommen wurde. Doch nicht waren die Verrenkungen und Abschweifungen dieser Wortspiele so abseitig, dass sie in völliger Verständnislosigkeit versackten. Sie blieben dem Zuhörer mit offenem Mund zugänglich.
Wobei, das sei angemerkt, selbst bei noch so gewürzter Ironie die einfühlsame Güte das so Gesagte umkleidete.
Sollte Gott am „Tage des Gerichts“ ernst damit machen, dass “die Menschen Rechenschaft geben müssen über jedes nichtsnutzige Wort, das sie geredet haben“, so warnte ich: Dann bleibe Gott allein, allein mit meiner lieben Großmutter.
Doch meine ich, dass in Walther Gottfried Seidner ein Christenmensch hinzutritt, ein Spielmann Gottes, dem ebenso nie ein nichtsnutziges Wort untergekommen war.

Was wir in einer nahezu enttäuschend nüchternen Sprache zu hören bekamen, stach ab von den Berichten der anderen in ihrer normierten Drangsalierung durch die Securitate, „parallele Lebensläufe“. Es ließ uns die Haare zu Berge stehen. Ich habe es mir als Einzelfall gemerkt.
So gnadenlos krass, das hatte man nicht einmal der Securitate zugetraut.
Gewiss, Pfarrer Seidner war für den Geheimdienst ein gefundenes Fressen. Durch dessen Domestizierung als Informant hätte die Securitate vieles an Wissen über Land und Leute eingeheimst: Er war Ortpfarrer einer stattlichen Kirchengemeinde, dazu über seine poetischen Erzeugnisse vernetzt mit einer weiten Welt. Das wollten sich die regimehörigen Proletarier in den diskreten Maßanzügen keineswegs entgehen lassen.
Als der Pfarrer von Stolzenburg sich weigerte und weigerte – ja nicht ja! -, und er die Dunkelmänner immer wieder mit einem Nein abspeiste, ließen sie den Knüppel aus dem Sack. Und sie sagten das Ihre brutal heraus, auf Deutsch, sie redeten deutsch. Nicht entblödeten sie sich, Goethe in ihren grässlichen Mund zu nehmen. Das so, Goethe, damit die tückische Androhung schmackhaft verpackt sei: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“ Die Männer ergänzten lächelnd – solch Gelichter sollte nicht, sollte nie lächeln, geschweige lachen: „Nimm deinen Verstand zusammen! Deine zwei Töchter kommen aus der Schule, überqueren die Chaussee und werden totgefahren. Deine zwei kleinen Mädchen, tot, mausetot. Und niemand wird je erfahren, wer der Fahrer gewesen ist!“
Was in ihm vorging, wissen wir nicht.
Pfarrer WaltherGottfried Seidner sagte eines und sprach es aus als sein letztes Wort für immer, schlicht und einfach so: „Nein! Niemals.“ Und wiederholte es rumänisch, um ganz sicher zu gehen: „Nu, niciodată!“
Pfarrer Seidener entließ die gottlosen Männer mit einem Bibelspruch, ihnen zugedacht wie jedem anderen Menschenkind unter Gottes Sonne: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“.
Ja er erlaubte sich eine winzige Wortverschiebung, wechselte ein Wort aus, nein: er tauschte zwei Buchstaben in demselben Wort um – und die Zusage Gottes bekam ein sehr anderes Gesicht: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott liebt, alle Dinge zum Besten dienen!“


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