Zeitreise nach Österreich

In den Trümmern eines demolierten alten österreichischen Postamtes fand ich zwei fast hundert Jahre alte Zeitungen. Die Lektüre versetzte mich in einer anderen Welt. Der Versuchung, dieses einmalige Erlebnis zu teilen konnte nicht mich nicht widersetzen. Folgende Auszüge sprechen für sich. Viel Spaß bei der „Zeitreise“!


Tiroler Anzeiger
Innsbruck, Dienstag, den 12. März 1918, Mittag-Ausgabe

Seite 1 enthält bitterernste, aktuelle Nachrichten. Speziell die Fakten aus dem Krieg sind, wenn man sie nüchtern betrachtet, haarsträubend. Man kann sie aber leider kaum ernst nehmen… Die altgermanische Schrift und die komplizierte Satzkonstruktion sind einfach köstlich. Wer hätte gedacht, dass fast hundert Jahre Geschichte so viel mit uns gemacht haben?

„Unbelehrt durch unseren Strafangriff gegen die Stadt Paris in der Nacht vom 30. Jänner und unsere erneuten Warnungen suchte der Gegner während der vergangenen Wochen wiederum friedliche deutsche Städte weit hinter der Kampfzone mit Bomben heim. […] Dem verbrecherischen und verblendeten Verhalten unseres Gegners entsprechend wurde der Angriff mit noch größerer Stärke und Wucht ausgeführt als der erste. Paris wurde mit insgesamt 2500 Kilogramm Bomben belegt.“


Es wird von dem japanischen Einmarsch in Sibirien und vom Friede im Osten berichtet, aber gemeldet wird auch von einer Versammlung im Abgeordneten Haus:

„Wie vorauszugehen, war auch diese Versammlung gleich außerordentlich stark besucht und auch gestern konnte der Saal nicht mehr Leute fassen, als er eben fassen konnte.“

Unfassbar, sozusagenOffenbar waren sich die Teilnehmer nicht in allen Punkten ganz einig, denn weiter unten heißt es:
„Bei dieser Bemerkung rief ein Versammlungsteilnehmer „Bravo“, wofür er mit brutaler Gewalt aus dem Saale entfernt wurde“.
Solch Vorgangsweise wäre ab und zu auch heutzutage angebracht, nicht?

Erfreulich ist auf dieser Seite die Nachricht über eine Amnestie, die vom Kaiser höchstpersönlich veranlasst wurde:

Österreich
„Es ist mir ein Herzensbedürfnis, anlässlich des für mich und mein Haus hocherfreulichen Ereignisses der glücklichen Entbindung meiner Frau Gemahlin, der Kaiserin und Königin, für solche Personen, die sich gegen das Strafgesetz vergangen haben und rücksichtswürdig erscheinen, Gnade und Milde zu üben.“
Das sieht dann im Original so aus:  „Es ist mir ein Herzensbedürfnis, anläßlich des für mich und mein Haus hocherfreulichen Ereignisses der glücklichen Entbindung meiner Frau Gemahlin, der Kaiserin und Königin, für solche Personen, die sich gegen das Strafgesetz vergangen haben und rücksichtswürdg erscheinen, Gnade und Milde zu üben.“
Herrlich kommt von Herr? In der Tat!

Unfreiwilliger Humor aus Österreich

Seite 2 ist eigentlich meine Lieblingsseite. Hier wird pikantes von der oben erwähnten Versammlung weitergegeben. Nachdem der erste Redner verabschiedet wurde („Die Beifallskundgebungen waren eigentlich recht mäßig zu nennen“), richtet nun der zweite Redner das Wort an das Publikum, „Gewerkschaftssekretär Ertl, der die Veranstalter der Mittelstandsversammlung „fraglich normale Menschen“, „Verrückte“, „Einseitige“ und endlich „Apothekerhunde“ nannte und meinte, dass diese nur zur Vermehrung des Elends beitragen (?). […] Im übrigen hatte dieser Redner einige sehr starke Saiten auf seinem Instrumente so dass einmal der Regierungsvertreter Einspruche erheben musste.“

Lasst Euch bitte nicht von der eigentümlichen Schreibweise irritieren. So wurde nun mal damals geschrieben. Ich habe die Originalversion beibehalten, für den Fall, dass ihr mir nicht glaubt.

Mutig meldet sich jetzt der einzige gegnerische Redner, „wobei er aber in rüder Weise trotz der Warnung des Vorsitzenden nicht angehört wird. Weiter steht: „Es zeigten sich ja wohl wieder die Anhänger der Partei, auf deren Konto neuerdings die zertrümmerten Fensterscheiben wehrloser und schuldloser Gemeindebetreibender in Graz zu setzen sind. Da muss man wohl sagen, dass eine solche Beschwichtigungs-Einleitung, wie sie gestern mit Wichtigkeit gemacht wurde, scheinbar wohl die gegenteilige Absicht hat und für „Sensation“ sorgen soll.“

Ich ahne, dass jetzt langsam auch bei uns die Geduld schwindet, also mache ich es kurz und springe zu den konkreteren Meldungen hinüber. Unter „Vermischtes aus Stadt und Land“ erfährt man, dass die Fleischabgabe für diese Woche 500 Gramm pro Karte beträgt, und dass sich ein Selbstmordversuch und ein Schwächeanfall ereignet haben. Auch ein Betrüger wurde verhaftet. Es ist allerdings auch von einem Hütteneinbruch die Rede, bei dem die Diebe „Wolldecken, von denen nicht weniger al 25 Stück stahlen“, dazu noch „zehn Hennen mit dem Hahn, die Eier von den Nestern, etliche Knäuel Spagat, zwei Liter Schnaps, Türken, Fett usw.“
Ich wünsche ich wüsste was mit „Türken“ gemeint wird. Das interessanteste kommt jedoch am Ende: „Schade auch um den schönen Bernhardinerhund, von dem keine Spur mehr zu finden ist. Etwa in einer Pfanne noch.“
Ob dies etwas mit der Fleischabgabe von 500 Gramm pro Karte zu tun hat?!
Hundefleisch in Österreich?!?

Seite 3 widmet sich dem Kulturellen. Erstaunlich vieles wurde auf Theater- und Musikebene geboten. Auch die kirchlichen Nachrichten, Lottozahlen, Auszeichnungen und Verfahren aus dem Gerichtssaal usw. nehmen ihren Platz. Interessant für mich waren aber einige Annoncen.
So bietet ein etabliertes Möbelgeschäft „10 komplette Schlafzimmer mit je 2 Betten samt Bettwäsche“ an.

Die Werbung setzt sich auf Seite 4 fort, wo ein „intelligentes Fräulein mit gefälliger Handschrift per sofort für die k.u.k. Apotheke des Garnisonsspitals Nr. 10 gesucht wird. Näheres dortselbst.“ 
Noch ein Paar Kostproben:
zu kaufen wird gesucht „jedes Quantum Mist, Kuh- od. Pferdedünger“;
zum Verkauf werden angeboten „Stadtschuhe für Herren nie getragen, 43, neu gesohlte Bergschuhe Nr. 42“;
Stipendien à 100 Kronen stehen bereit für „in Innsbruck heimatberechtigte, arme und ordentliche Lehrlinge […] Knaben, welche ein Handwerk lernen, oder Mädchen, welche sich der Erlernung weiblicher Handarbeiten widmen“;
und das Allerletzte: „Kaufe Zähne, alte, per Stück K 3-, Postsendungen werden prompt erledigt.“
Zugegeben, das letzte könnte unter Umständen weh tun…

Mein Aller-Allerliebstes Stück steht aber im Tiroler Anzeiger vom 14. März 1918, also zwei Tage später. Falls ihr auf den Geschmack gekommen seid und ich Eure Geduld nicht schon zu sehr strapaziert habe, hier kommt die Krönung. Es ist ein Bericht über eine Abgeordnetensitzung zum Thema Lebensmittelknappheit, an der auch die damals dazugehörigen Polen und Tschechen teilnahmen.

„Als Generalredner contra hielt der Hauptmatador der Tschechen, der Schreier Soukup eine Rede über Ernährungsfragen, wobei er mit maßloser Übertreibung auf die Ernährungsschwierigkeiten hinwies, wie sie in Prag bestehen sollen. Da die tschechischen Abgeordneten die Ausführungen des Redners mit lebhaften Buhrufen begleiteten, protestierten die deutschen Abgeordneten, was wieder auf tschechischer Seite ein wütendes Geschrei entfachte. Abgeordneter Soukup schwor, in Prag herrsche Not an Fleisch, Mehl, Zucker. Abg. Fro versicherte: in Wien auch; reden Sie übrigens vom Erzgebirge und vom Riesengebirge! Abg. Wolf rief dem Redner zu: Euch in Prag geht es ja viel besser als bei uns! Gegen diese Behauptung, dass es den Tschechen in Prag nämlich viel besser ginge als den Deutschen anderswo, entstand auf allen tschechischen Bänken ein ungeheurer Tumult. Die Tschechischen Abgeordneten bedrohten den Abgeordneten Wolf, der sich im Verlaufe seiner Erwiderungen in der Nähe des Tschechischen Redners begeben hatte, mit den Fäusten und riefen ihm nicht wiederzugebende Schimpfworte zu. Abg. Majata warf ihm, wahrscheinlich zur Illustration der von Abg. Soukup in so bewegten Worten geschilderten Hungernot, ein Stück Zucker an den Kopf. Abg. Wolf suchte sich auf seinen Beleidiger zu stürzen, wurde jedoch vom Abg. Rndlo erfaßt und mit einem wuchtigen Stoß an die Rednertribüne geschleudert.
Das Handgemenge wurde nun allgemein. Zahlreiche Abgeordnete mischten sich ein und wollten dem Abg. Wolf helfen und vor der Rednertribüne entstand ein Faustkampf, ein Stoßen und Drängen, begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm und schrillem Geschrei. In dem dichten, sich heftig hin und her bedrängenden Knollen konnte man die kämpfenden Volksvertreter nicht erkennen, man konnte nicht wahrnehmen, welcher Abgeordnete deutscher und tschechischerseits an der Rauferei beteiligt waren; nur die Abg. Wedra und Michl, welche den Abg. Wolf befreiten, waren wahrnehmbar. In dem Tumult hatten die Streiter nicht bemerkt, daß der Vizepräsident Simionovici die Sitzung unterbrochen und den Saal verlassen hatte. Nach Wiederaufnahme der Sitzung erteilte der Vorsitzende den Abg. Rndlo, Mafata und Wolf wegen dieser Szene den Ordnungsruf.“

Ordnung muss sein.

Ob die Abendausgabe der Zeitung auch so schlagfertig wie die Mittagsausgabe war kann ich leider nicht berichten, denn ich fand am Fundort nur diese zwei Zeitungsexemplare.
Zuallerletzt, was mich stutzig macht: es werden keinerlei Verfasser der Zeitungsberichte erwähnt. Als ob es nicht von Bon Ton wäre, sich selbst als Journalist im Vordergrund zu stellen. Chapeau Bescheidenheit! Auch gibt es kein Impressum oder Ähnliches. Lediglich auf der letzten Seite, ganz unten, steht: „Für das Blatt verantwortlich: Leopold Bauerfeind“.
Respekt, Herr Bauerfeind!

Übrigens, für diesen Bericht verantwortlich bin ich. Wünsche noch einen schönen Tag und empfehle mich hochachtungsvoll bei den ehrenwürdigen Damen und Herren!

 


Sehen Sie dazu die „Nationalbibliothek Österreich“