„Alptraum Balkan”

Rezension zum Buch „Alptraum Balkan”

Rezension - Alptraum BalkanAufgezeichnungen von Anna M. Wittmann nach der Erzählung von Friedrich Umbrich
ISBN: 3-412-16502-6
erschienen im Böhlau Verlag Köln Weimar Wien, 2003
und in rumänischer Übersetzung im Verlag Cartier, Chișinău, 2015

Ein siebenbürgischer Bauernsohn im Zweiten Weltkrieg (1943 – 1945)

„Alptraum Balkan” ist das Buch das ich nur zögernd in die Hand nahm, denn der Titel ließ auf traumatische Erfahrungen schließen. Jedoch verschlang ich es in Windeseile, denn trotz dramatischen Inhalts häufen sich darin Erfahrungen voller ungestümer Lebensleichtigkeit, die mich mit sanfter Liebe und ohne jegliches Pathos an die ungezwungene Art meiner Siebenbürger Sachsen erinnern, an das Wesen des Volkes in deren Mitte ich aufgewachsen bin. Nach Beendigung der Lektüre ließ mich dieses Buch nicht mehr los und es hinderte mich daran, mein „normales” Leben weiter zu führen. Ich musste meine Eindrücke über dieses kleine Juwel zu Papier bringen! Wie ich inzwischen weiss, war ich wohl nicht die einzige Person, der es so ergangen ist.
Natürlich bin ich der selben Meinung wie meine vorherigen Kollegen und Rezensenten, besonders der des geschätzten siebenbürgischen Journalisten und Botschafter Rumäniens in Deutschland, Herrn Emil Hurezeanu, Verfasser des Vorworts für die rumänische Ausgabe. In der Tat handelt es sich hiermit ohne Zweifel um ein kostbares Dokument, um ein Buch, welches in erster Linie als Zeugnis der Geschichte betrachtet werden muss.

Auch der rumänische Präsident, Klaus Johannis, gratulierte den Verfassern in einem besonders rührenden Brief und bemerkte die Wichtigkeit dieses Beitrags für den Beginn eines ehrlichen, unverfälschten Zugangs zur wahren Geschichte unseres Landes, speziell zu seiner deutschen Minderheit im Laufe des Zweiten Weltkriegs.

Nichdestotrotz möchte ich hiermit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die literarische Dimension dieses Werkes lenken, denn, entgegen meiner Erwartung, handelt es sich hierbei keineswegs um trockenes, wissenschaftliches „fachchinesisch”, sondern vielmehr um hinreißende Schreibkunst, die den nichteingeweihten Leser anspricht und verzaubert. Es wäre viel zu schade, die wunderbare, menschliche Note dieses spannenden Prosawerkes zu ignorieren.

Doch warum fühlt man sich als Leser von dieser Geschichte, die in einer Zeit und Welt spielt, in der es die meisten von uns noch gar nicht gab, dermaßen angesprochen?
Das Geheimnis liegt in der Tatsache, dass alles was in diesem Buch passiert, aus der Sicht eines Menschen „wie du und ich” beschrieben wird. Es könnte jeder von uns gewesen sein! Somit konfrontiert es uns mit einem Leben, ehrlich und unverfälscht, dem Leben eines normalen Menschen, der sich gezwungen sieht, in einer anormalen Welt zu überleben. Mit anderen Worten: es ist das Leben eines jeden selbst.

Ich schreibe diese Rezension im Jahre 2016, ein Jahr, welches vom Brechen mehrerer Tabus negativ geprägt ist, einem Jahr voller Gewalt und kriegerischem Wahnsinn, ein Jahr in dem ein russischer Staatsmann die Bemerkung machte, dass wir wohl bereits seit längerer Zeit erneut mitten in einen erneuten „Kalten Krieg” hineingerutscht sind.

Als diese Meldung in den Nachrichten kam, gefror vielen von uns das Blut in den Adern. Es ist als ob die Menschheit nie aus den eigenen, schrecklichen Erfahrungen gelernt hat, als ob uns die Geschichte nicht deutlich genug gezeigt hat, wie monströs die Wirkungen eines Krieges sind!

Eben aus diesem Grunde gibt uns „Alptraum Balkan” Anlass zum erneuten Nachdenken über die Hilflosigkeit des ungeschützten Bürgers, des unbescholtenen Menschen, der meistens von der Walze der unkontrollierbaren Gewalten immer wieder überrollt wird.

Diese Buch erzählt uns das Leben eines siebenbürgischen Sachsen, der unwissend, später auch gegen seinen Willen, als Soldat der ehemaligen SS im Zweiten Weltkrieg diente. Man muss kein Monster sein, um so etwas durchzumachen; es hätte jedem passiern können, der unter ähnlichen Bedingungen und ähnlichen Umständen auf der Welt gekommen ist.

Ja, das ist auch wirklich vielen anderen Sachsen so ergangen, aber nur wenige haben es überlebt. Das Schicksal wählt uns ganz willkürlich aus. Folglich ist es traurige Tatsache, dass dieses Buch, trotz seines geschichtlichen Themas, brandaktuell ist. Es mahnt uns nicht zuzulassen, dass sich die Tragödien und Grausamkeiten des Krieges wiederholen, ein Krieg der uns Europäer seit ziemlich langer Zeit, wie durch ein Wunder, erspart gebleiben ist. So banal wie es klingt, die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder.

Der Autorin, dem Menschen Friedrich Umbrich und dem Verfasser dieses Buches würden wir grosses Unrecht tun, wenn wir dieses Buch als einfachen Kriegsbericht klassifizierten. Es ist ein literarisches Werk, ein Sammelstück und Nachschlagwerk, welches das Herz eines jedes Buchliebhabers höher schlagen lässt. Aus der Sicht des nicht voreingenommenen und ungewarnten Lesers, der sowohl kein Historiker, wie auch kein Wissenschaftler ist, bedeutet die Lektüre dieses Buches eine erschütternde Reise durch ein dramatisches Leben, mit Höhen und Tiefen, die jeden von uns an Ereignisse erinnert, die zwangsläufig sein Leben geprägt und verändert haben. Das ist der Grund warum wir uns mit der Hauptperson so gut identifizieren.

Das ist der Grund aus dem auch ich, geboren in einer deutlich späteren Zeit, unter einer völlig anderen Regierung, ohne auch nur irgend etwas mit einem SS-Soldaten gemeinsam zu haben, mich unzweifelhaft mit Fred verbunden fühlte. Denn jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich mit dem Sieger zu identifizieren. Sogar wenn er als Besiegter vom Feld geht, denn dann hat er den Kampf um sein Leben trotzdem gewonnen.

In den Seiten diese Buches begegnete ich gedanklich einer Menge Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten aus meinen eigenen Kreisen. Es sind Menschen die den verschiedensten Generationen und Nationen angehören, Menschen von heute, die vom Balkanalptraum vielleicht nicht einmal gehört haben. Sie alle verbindet das siedende Fluiduum der Geschichte und der Inhalt dieses autobiographischen Romans, der einem Knäuel menschlicher Schicksale ähnelt.

So sehe ich vor meinem inneren Auge das sanfte, etwas müde Lächeln meines verstorbenen Schwiegervaters, ein „Reichsdeutscher”, wie Fred ihn nennen würde. Als sechzehnjäriger Jungpilot flog er Kampfflugzeuge im Zweiten Weltkrieg und fiel zwei mal wortwörtlich vom Himmel, nachdem seine Maschine abgeschossen wurde. Auch er war ein Überlebender, wie Fred.

Dann sehe ich meine Grossmutter, hunderprozentige Rumänin, ohne jegliches deutsches Blut in ihren Adern. Sie lebte in einem siebenbürgischen Dorf, ein Ort der Freds´ Heimatdorf zum Verwechseln ähnlich war. Ihre Art zu leben und zu sprechen war durch und durch siebenbürgisch, dem gewogenen, harmonischen Rhythmus ihrer behüteten Welt perfekt angepasst. Ihrer Meinung nach sprach sie Rumänisch, aber viele Redewendungen und Worte klangen deutsch. Zum Beispiel sagte sie „Teller” anstatt „Farfurie” und „Broter” anstatt „Cuptor”… Auch sie bediente sich bei dem ausserordentlichen bunten Sprachgemisch unserer Gegend, ähnlich wie alle Siebenbürger, ähnlich wie Fred.

Dann sehe ich meinen Vater, der in seiner glücklichen Kindheit für das Ausführen und Hüten des familieneigenen Viehs zuständig war. Er liebte die Natur, die Ruhe und die scheinbar ewige Unberürtheit des heimatlichen Harbachtals. Sein heissester Wunsch war, als angesehener Bauer, mit eigenem Weingut, Imkerei und Obstgarten zu leben. Doch er wurde Lehrer und sein Leben verlief ganz anders, genauso wie das Leben von Fred.

Und dann sehe ich mich, in den siebziger Jahren, als fleissiges Schulkind, mit der Fibel unterm Arm, die Fibel, aus der auch Fred seine ersten Buchstaben lernte. Wie unruhig ich wurde, als mich meine Eltern in der fünften Klasse aus der Deutschen Schule nahmen und in die Rumänische Schule schickten, damit ich endlich auch ordentlich rumänisch, die Sprache meiner Vorfahren lernte! Ich drohte ihnen mit Scheitern und Versetzen, nachdem ich vier Jahre lang immer Klassenbeste gewesen war.

Das Haus, in dem meine Familie wohnte gehörte der evangelischen Kirche und ich ging täglich an dem Denkmal vorbei, auf dem die Namen der Kriegsgefallenen standen. Es waren die gleichen Familiennamen die auch in Freds´ Dorf vorkamen: Schuster, Blues, Lang, Engbert, Schunn…

Ich versuche mir sogar Herrn Emil Hurezeanu vorzustellen, der uns während der kommunistischen Zeit aus dem fernen Deutschland, vom Mikrofon des Radio Europa Liberă-Senders Mut machte, und der uns praktisch als einzige Verbindung zur Aussenwelt diente. Auch ihm muss wohl so zumute gewesen sein, fernab der Heimat, mit gebundenen Händen zuzusehen wie Rumänien unter dem unmenschlichen Regime litt. Mit Sicherheit vermisste auch er seine siebenbürgische Heimat, genauso wie Fred, der, nachdem der Krieg zu Ende war, keine Erlaubnis erhielt zurückzukehren.

Nicht zuletzt denke ich auch an meinen Schwager, der im früheren Ostdeutschland geboren ist und jetzt in der ehemaligen Bundesrepublik lebt und arbeitet. Das Apartment in dem er wohnt, zu und von dem er Woche für Woche pendelt, befindet sich ausgerechnet in Weinsberg, der Ort in dem sich Fred nach dem Kreig eingemietet hatte, denn nach Hause durfte er ja nicht gehen. Auch mein Schwager wurde dort anfangs, nach dem Motto „du bist kein echter Deutscher” mit Kälte und Misstrauen empfangen Als ob er es so gewollt hätte, als ob er am Lauf der Geschichte eine Mitschuld trüge!

Wir alle sind Zeitgenossen mit großen Gemeinsamkeiten und leben verstreut wie die Brotkrümmel, die aus der Tischdecke, die Freds´ Mutter nach dem Essen draussen ausschüttelte, rausfielen. Ich denke jede siebenbürgische Frau pflegt diesen Brauch; meine Mutter macht es genauso. Doch gleichwohl wie verstreut wir leben, dieses Buch fasst uns zusammen und hält uns zwischen seinen zwei Hardcoverdeckeln fest. Wir sind eine Art geschichtlicher Krümel, vermittelt als Liveübertragung.

Es gibt noch einen Grund aus dem mein Herz so schnell mit diesem Bucht mitschwang: der Schreibstil.
Es geht mir weniger um die Sprache, denn das Buch ist in einem einwandfreien Rumänisch übersetzt. Vielmehr geht es mir um die Anreihung der Worte und um eine gewisse Note der siebenbürgischen Mundart, die sich trotz mehrfacher Sprachfilter zwischen den Zeilen andeutet. Es kann sein dass es sich um eine landesspezifische Topik handelt, so genau kann ich das nicht beschreiben. Kurz gefasst: dieses Buch „atmet” durch und durch siebenbürgisch.

Keineswegs distanziere ich mich von den anderen Regionen des Landes. Ich finde nur dass die Rumänische Sprache, die in Siebenbürgens Schulen unterrichtet wird, genauso stark vom amtlich annerkannten Rumänisch des Regats abweicht, wie sich das Deutsch der Siebenbürger vom eigentlichen Hochdeutsch im Reich unterscheidet. Übrigens, das Wort Regat ist die genaue Übersetzung des Wortes Regat!

Nicht die Idiomen und die Akzente, also nicht die Hardware der Sprache, sondern ihre Anreihung, ihre Ordnung, die Software ist anders; und Ordnung ist das geflügelte Wort, dass von den Siebenbürgern seit eh und je geliebt und gehütet wird. Wie die Sprache, so die Menschen: ehrlich und wahrheitsgetreu, schlicht und einfach, echt.

Wir Siebenbürger haben eine eigentümliche Art, Tat und Wort auf die Waage zu legen. Mir persönlich hat das während meiner Studiumszeit in Bukarest sogar ein wenig geschadet, besonders als ich schriftliche Arbeiten vorbereiten musste. Freundliche Professoren empfahlen mir, die Sätze umzuformulieren damit nicht der Eindruck entstehe, ich hätte aus einer fremden Sprache übersetzt. Natürlich brachte mich dies auf die Palme! Allein der verdeckte Vorwurf eines Plagiats erschien mir ungeheuerlich.

Ich habe keine Ahnung wie ein Nicht-Siebenbürger auf die Besonderheiten unserer Kommunikationskunst reagiert, aber mich hat die Sprache, die in „Alptraum Balkan” vorkommt, tief berührt, denn sie erinnert mich an meine Kindheit und zeigt mir, dass in meinem Herzen immer noch ein Grundmuster liegt, ein klares Wertesystem, nachdem wir wohl alle mehr oder weniger gleich gestrickt sind. Unwiderstehlich!

Die Sprachwissenschaftler sind der Meinung, dass nicht nur unsere Gedanken die Form der Worte einnehmen, sondern auch umgekehrt, dass unsere Charakterzüge durch unsere Worte beeinflusst werden. Gewiss beruht meine instinktive Sympathie für die Figuren, die in diesem Buch vorkommen auch auf deren Behauptungen und auf ihrer Art zu reden.

Das beweist, dass die Anzahl der Grenzen, die wir in unserem Leben überschritten haben und die Zölle die wir dabei bezahlen mussten, keinerlei Einfluss auf das Fundament haben, auf dem wir von zu Hause aus gebaut wurden. In unserem Wesen liegt tief vergraben eine Ader, die mit uns mitfliesst und uns auch in der Fremde begleitet und leitet. Das ist wie ein geheimer Schlüssel, der unser Erbgut bestimmt, uns verbindet, und uns hilft in allen Lebenslagen unsere Entscheidungen zu treffen. Mein siebenbürgischer „Geheimcode” hat sich mit der Lektüre der Autobiographie von Fred Umbrich reaktiviert. Ich nenne ihn einfach „Siebenbürgischer Regelsatz”. Er gibt uns Kraft und Ausdauer und hilft uns Schwierigkeiten zu überwinden. Solange wir auf diese innere Stimme hören sind wir fähig, selbst unter den allerschlimmsten Bedinungen, bei Hunger, Todesangst, grossser Not oder ungeheueren Ungerechtigkeiten nicht zu Grunde zu gehen.

Auf der Fassade des Hauses, in dem ich meine Kindheit verbrachte, steht ein Motto in altdeutscher Schrift: ” Wer aus der Schule nichts ins Leben nimmt, den wird das Leben in die Schule nehmen.”
Erst vor kurzer Zeit habe ich die volle Bedeutung dieses Spruches begriffen. Die Rede ist hier genau von diesem „Gencode”, der nicht nur mich auf meinem Weg begleitet. Zu wissen, dass ich damit nicht alleine bin, ist ein unglaublich gutes Gefühl.

Zurück zum Balkanalptraum, das Buch, dass nun einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek erhalten hat. In hartem, hochwertigen Papier gebunden, ist es ein wahrer Handschmeichler. Die dicken Seiten, von ordentlichen, anmutigen Lettern bedeckt, flößen Respekt für das gute alte Handwerk ein. In Form und Struktur erinnert es mich an die Bücher meiner Kindheit, liebevoll bearbeitete Bänder aus den rumänischen Verlagen wie der Kriterion-Verlag, der auf deutsche Bücher spezialisiert war. Einmal im Jahr durften wir Kinder in der Buchhandlung von Erika-Tante eines davon aussuchen. Die Wahl fiel mir immer schwer, denn ich wollte alle! Erika-Tante war streng zu uns, sie schrie sogar die Erwachsenen an und niemand durfte etwas ohne ihre Genehmigung anfassen. Doch mich konnte nicht einmal ihre herrische Art davon abhalten immer wieder ihren Laden zu betreten und mich dem Zauber der Bücher hinzugeben.

Mit Fussnoten, Anhängen, alten Schwarz-Weiss-Fotos und historischen Anmerkungen ist es ein fundiertes Werk, im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Drucksachen, die eher schnellebig und, sowohl inhaltlich wie auch gewichtsmässig, leichter sind. Im Zeitalter der Computer, geblendet vom Glanz ihrer Bildschirme, lesen wir immer weniger Bücher in traditionellem Sinne, und es wird leider viel zu oft vergessen wie toll und einmalig schön ein solches Kleinod sein kann, in dem jede Menge Arbeit steckt.

All denen, die dazu beigetragen haben und selbstlos ihren Beitrag leisteten – manche sogar ohne darin erwähnt zu werden – damit wir heute dieses wahre Geschenk in den Händen halten können, danke ich aus vollem Herzen und gratuliere ihnen zum vollendeten Ergebnis.

Rezension erschienen in:
Hermannstädter Zeitung
11. November 2016

zurück