Wie wird die Zukunft sein?

Johan Galtung

Ungewisse Zeiten verstärken das Bedürfnis, die Frage nach der Zukunft zu stellen. Ich sprach mit dem norwegischen Soziologen, Mathematiker und Zukunftsforscher Johan Galtung, der in Spanien, an der Costa Blanca lebt.

Sie hatten die steigende Bedeutung der asiatischen Staaten im geopolitischen Sinne erkannt und deren baldigen Aufstieg zur führenden Position im weltweiten Geschehen vorhergesagt. Wie es aussieht, passiert das jetzt, zumindest in wirtschaftlichem Sinne. Wird auch die politische Umwälzung stattfinden? Wenn ja, was bedeutet das für die westliche Welt?

Johan Galtung: Es gibt ja Asiaten und Asiaten, aber es ist ganz klar, dass zwei sehr große Nationen asiatisch sind: China und Indien. Und China und Indien sind sehr eng verbunden. Wenn sie zusammenarbeiten, dann ist das selbstverständlich eine Großmacht. Das bedeutet nicht unbedingt, dass das schlimm ist. Überhaupt nicht. Asien hat auch, selbstverständlich, ein Recht auf Selbstbestimmung. Wir sind ja im Westen meistens der Meinung, dass alles von uns abhängig ist, dass wir alles entscheiden. Jetzt ist ganz klar geworden: die Asiaten wollen selber entscheiden.


Aber diese Staaten neigen zu einem etwas autoritäreren Führungsstil. Gibt es eine friedliche Ost-Übernahme, zum Preis einer streng kontrollierten Gesellschaft?

Na, ein bisschen vielleicht, ja. Aber sehen Sie, sie waren auch Gegenstand unseres Kolonialismus, und der war sehr autoritär. Es könnte sein, dass man mittlerweile Sachen zu bekämpfen hat, die man selber bewirkt hat.


Kann es sein, dass unsere Demokratie dann leidet?

Unsere Demokratie? Also ich bin so froh, dass Sie unsere Demokratie sagen! Weil diese Demokratie nur für uns war. Sie war nicht für die Welt.


Sie meinen, sie war ungerecht?

Nein, sie ist für uns. Es liegt an uns, unsere Demokratie zu realisieren, und meistens gelingt das auch nicht so schlecht.


Wird es also bald eine Art gemischte Lösung in der Geopolitik geben?

Es ist gemischt. Sehen Sie, eine wirkliche Weltpolitik gibt es noch nicht, weil die Teile der Welt auch „zivilisatorisch“ sind. Und die Zivilisationen vermischen sich nicht miteinander, sie kämpfen für ihre eigene Identität. Deswegen sind wir regional. Es gibt Regionen, und diese Regionen – wie ich schon angedeutet habe – sind meistens zivilisatorisch, wenn Sie mich verstehen.


Man kann auch einen Aufschwung des Nationalismus beobachten. Es beunruhigt, dass sich ein paar Staaten verschließen. Hoffentlich nicht für immer. Was ist eher denkbar: Verschließung der Nationen oder Zusammenschließen in supranationalen Bündnissen? Mehr Nationalismus, oder doch mehr Weltgemeinschaftssinn?

Vielleicht ist das Wort Regionalismus besser als Nationalismus. Es sind ja die alten Staaten sozusagen, aber sie bewegen sich in Richtung Regionen.

Wie die Europäische Union?

Zum Beispiel.


Sind Sie der Meinung, dass die Europäische Union diese große Probe der Coronavirus-Krise überstehen wird?

Sie hat schon sehr viel überstanden. Aber es gibt eine EU und noch eine EU. Es gibt einen inneren Kern, das sind die sechs Gründerstaaten: Benelux, selbstverständlich – damit hat es angefangen – und dann noch Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien…


Ja, ferner, zum Beispiel, auch meine Heimat Rumänien. Das Volk fühlt sich momentan in der Rolle der Zweiter-Klasse-Mitgliedschaft nicht ganz glücklich. Es formiert sich sogar langsam ein bisschen Widerstand. Muss man sich da Sorgen machen?

Es ist ja genau, wie Sie sagen: Die EU ist eine Treppe und es gibt mehrere Stufen. Ich glaube, es ist wichtig für jeden Staat, die richtige Stufe für sich selbst zu finden. Es ist ein Kern da. Dazu kommen dann die anderen drei, die ich erwähnte, und so weiter.


Die Entscheidung hängt viel von den Politikern ab. In Zeiten der Coronavirus-Krise rücken plötzlich andere Politiker ins Rampenlicht, sowas wie eine Mischung aus entschlossenen „Staatsmännern“, die hart durchgreifen, und behutsam agierenden „Staatsfrauen“. Entsteht vielleicht gerade eine neue Politiker-Klasse, eine Mischung von streng und einfühlsam, so etwas wie ein HybridLeader-Typ?

Das ist ein sehr interessanter Gedanke. Ich bin einverstanden! Eine neue Welt entsteht und kommt mit neuen Herausforderungen, und es gibt neue Kräfte, die diese Herausforderungen annehmen und etwas damit tun. Es könnte auch sein, dass es noch alte Kräfte gibt, die nicht verstehen, was vor sich geht.


Es erstaunt geradezu, dass Persönlichkeiten, die früher etwas in der Politik zu sagen hatten, plötzlich schweigen.

Weil sie nicht wissen, was sie dazu sagen sollen.


Und die Frauen, da wir gerade von der „sanften Politik“ reden? Einst haben Sie vorhergesagt, dass die Frauen immer mehr Bedeutung in der Gesellschaft gewinnen werden. Nun, genau so etwas passiert jetzt: Die unterbezahlten Berufe, die uns aus der Pandemiephase herausboxen, sind zu 70 Prozent von Frauen besetzt. Plötzlich erhalten sie moralische Anerkennung. Bleibt das so, oder gerät die Dankbarkeit in Vergessenheit, nachdem die Krise überwunden ist?

Es könnte sein, dass Frauen weniger sichtbar sind, aber sie treffen bereits Entscheidungen. In der Zukunft noch mehr als jetzt, und es wird offener angenommen. Machen Sie bitte diese Trennung. Ich meine, es könnte sein, dass die Frauen eigentlich sehr viele Sachen schon entscheiden, aber sie sind weniger sichtbar.

Ja, das was sie tun, spiegelt sich meistens auch nicht in der Bezahlung wider, leider.

So ist es. Sie sagen „leider“. Es könnte aber sein, dass in der heutigen Phase nicht „leider“ das richtige Wort ist, sondern, dass es sich um eine ganz geglückte Strategie handelt: weniger sichtbar sein, aber sehr viel mehr bewirken.


Demographisch gesehen findet nicht nur aus Sicht der Geschlechterrollen ein Wandel statt. Auch im Sinne der Immigration, der Geburten- und Sterberaten. Was wird Ihrer Meinung nach jetzt mit der Weltpopulation passieren?

Ich glaube, sie wird nicht viel größer sein. Es könnte auch sein, dass sie geringer wird. Es sind die Frauen, die das entscheiden. Ich glaube, es gibt immer mehr Frauen in der ganzen Welt, die sich ein eigenes Leben für sich wünschen und nicht als „Geburtsmaschinen“ betrachtet werden wollen. Je mehr Frauen so denken, wie ich jetzt angedeutet habe, desto weniger Geburten werden wir haben. Ich glaube, es gibt sehr viele Frauen, die nun sagen: Zwei Kinder sind das Maximum. Sie haben jetzt die Möglichkeit, das zu entscheiden, durch mehrfache Methoden. Ich glaube, sie werden sich für etwas in Richtung ein bis zwei Kinder entscheiden, um ihr eigenes Leben zu einem guten Leben zu machen und nicht weiter Zuschauerinnen sein, für die Männer, die ihrem Lebensmotto folgen.

Ein anderes „unsichtbares“ Thema ist die Religion: Sie, als Gründer der Friedensforschung, sehen die Spannungen, die durch Reibungen zwischen den Religionen entstehen, als Grund vielen Unfriedens. Nun kündigt sich eine neue Glaubensrichtung, die „Klimawandel-Religion“, an. Wie im Falle jeder Religion, geht es auch bei ihr darum, möglichst viele Anhänger zu gewinnen, indem man sie überzeugt, die Welt vor dem Untergang zu retten. Werden dadurch die Konflikte zwischen Christentum, Islam, Buddhismus und weiteren Religionen in den Hintergrund treten?

„Klimareligion“ ist ein neues Wort. Sehr geglückt! Das könnte sein, es könnte sehr wohl so sein! Also, wir alle haben ja diese Klimasache gemeinsam.


Aber es ist eine Glaubenssache, denn nicht alle glauben daran. Deswegen habe ich das Wort „Religion“ gewählt.

Ich verstehe das, ich habe das sofort verstanden. Ich finde das sehr geglückt, Ihre Fragestellung und wie sie die Worte anwenden.

Es wäre natürlich schön, wenn zum Beispiel der Islam und das Christentum nicht mehr untereinander streiten, sich dafür aber zusammen für ein gutes Klima des Planeten einsetzen.

Es ist ja eine Überlebensfrage. Der Planet ist für uns alle da, wichtig für uns alle, für die Menschheit. Ich glaube schon, dass das möglich wäre. Ja. Es hängt schon eine Menge davon ab. Einerseits gibt es die Menschenwürde – also die menschlichen Bedürfnisse sozusagen – und andererseits die Naturbedürfnisse. Natur und Mensch. Wir sind ein Teil der Natur, das ist ganz klar. Aber wir sind ein sehr wichtiger Teil, und Dinge für uns zu fordern ist auch wichtig. Wir haben Grundbedürfnisse. Es ist unsere Aufgabe, diese nicht in Frage zu stellen, nicht nur zu respektieren, sondern auch zu fördern. Ich glaube, wenn man die Bedürfnisse der Menschen und die Bedürfnisse der Natur versteht, und sie als Grundwerte betrachtet, dann wird man die besseren Entscheidungen treffen können. Das Grundbedürfnis der Menschen ist selbstverständlich das Überleben, verbunden mit – wie soll ich es sagen… – „Willness“ wäre ein passendes Wort dazu. Ein Teil davon ist „Illness“. Also Krankheit mit Wohlsein verbunden. Genau dasselbe könnte man auch über die Natur sagen: Überleben ist auch ein Grundbedürfnis der Natur. Was wünscht die Natur eigentlich? Ich glaube ungefähr dasselbe, was wir uns wünschen. Es

gibt mehrere Bedingungen für das Überleben. Diese muss man untersuchen, um das Leben zu verstehen.


Digitalisierung ist auch ein Wort in aller Munde. Sie mischt überall mit und droht uns zu bevormunden. Inmitten der Informationsflut kann man kaum noch Gelogenes von Wahrem unterscheiden. Muss man da nicht eine Art „Inseln der Freiheit vom Digitalen“ erschaffen, auf die sich jeder Mensch flüchten darf, wenn er sich dem Druck der Digitalisierung entziehen möchte? Was halten Sie von der Digitalisierung der Menschheit?

Ein Instrument. Man muss es besser anwenden. Man kann nicht dafür oder dagegen sein. Es gibt Digitalisierung und Digitalisierung. Man muss sie gut anwenden.


Zum Beispiel steuert sie sogar nützliche Lösungen zur Eindämmung der Pandemie bei. Doch man greift auch auf bewährte Tradition zurück, ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg den Marschallplan in Deutschland oder die Pactos de Moncloa in Spanien. In Sachen Rettungspläne kann man auch vieles falsch machen. Sie sagten einst, Japan hätte sich nach dem Zweiten Weltkrieg schlechter als Deutschland „gerettet“. Welche Fehler sollte man jetzt vermeiden?

Eine gute Problemstellung. Ich muss sagen, ich bin nicht bereit, darauf eine Antwort zu geben. Es ist sehr kompliziert und Sie haben eine Menge an Geschichte angedeutet…


Ich verstehe. Betrachten wir dann lieber die Rettungsmaßnahmen aus Sicht der Betroffenen. Viele Menschen haben Angst, dass die Coronavirus-Krise in sozialen Unruhen münden könnte. Halten Sie es für denkbar, oder sind Sie der Meinung, dass uns der Konsumaufschwung, der folgen soll, eher euphorisch stimmen wird?

Ich tippe auf Nummer zwei. Oder vielleicht beides. Ja, sogar gleichzeitig. Also ich finde, dass die Menschheit nicht so dumm ist. Sie findet immer Möglichkeiten. Und sie schafft auch Möglichkeiten. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich die Geschichte ein bisschen zu kennen glaube. Das, was man überlebt und überwunden hat, erscheint einem manchmal fast unglaublich! Diese Fähigkeit besteht.


Es soll wieder die Produktion wichtiger als der Konsum werden. Man beobachtet, dass die Dienstleistungen am meisten von der Pandemie betroffen sind. Ist ihre Ära vorbei?

Wenn man Dienstleistung sagt, denkt man an die klassischen drei Sektoren der Ökonomie: Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen. Die Bedingung dafür ist selbstverständlich, dass die Landwirtschaft und die Industrie automatisiert, robotisiert und optimiert werden. Es ist nicht so, dass Dienstleistungen abgeschafft sind, sie sind darin enthalten. Die menschlichen Fähigkeiten, Kreativität und so weiter, wirken in Form von Dienstleistungen in allen drei Sektoren.


Darf ich Sie an ein Zitat aus Ihrem Buch erinnern?

Sie sagen „Ihrem Buch“. Ich habe aber ungefähr einhundertfünfzig Bücher auf meinem Gewissen. Da müssten Sie mir schon genauer erklären, welches Sie meinen.


Natürlich. Ich meine diese Worte aus ihrer literarischen Autobiographie: „Eine Welt mit nur einem Staat, der Welt selbst, und nur einer Nation, der Menschheit, zeichnet sich am Horizont ab. Es ist unsere Aufgabe, eine Welt zu entwerfen, in der niemand gleicher ist als der andere.“ Meine Frage ist: Bringt uns die Coronavirus-Krise ihrer Vision näher, oder bewegen wir uns eher in die entgegensetzte Richtung?

Ich glaube, wir sind eigentlich näher gekommen, weil die Coronavirus-Krise eine Herausforderung für die ganze Menschheit ist. Man könnte sagen, dass sich in den entstandenen „Corona-Kreisen“, wie in einem günstigen Kielwasser, mehr Zusammenarbeit erreichen lässt. Weil wir alle betroffen sind.


Ja, man beobachtet, wie uns die gemeinsame Front gegen den unsichtbaren Feind der Krankheit zusammenschweißt. Die Solidarität und die Hilfsbereitschaft sind gestiegen. Dadurch, dass die Menschen in Quarantäne viel Zeit mit sich selbst verbringen, entsteht viel Kunst. Werden Ethik, Kunst, Geisteswissenschaften – generell gesagt der spirituelle Bereich – eine neue Bedeutung gewinnen? Haben wir eine Chance auf eine Renaissance der Sinnlichkeit?

Sehr, sehr möglich. Man könnte sagen, die Befreiung, wenn man
die menschliche Geschichte betrachtet, passiert genau auf diese Weise. Da, wo es große Herausforderungen gegeben hat, sind auch ganz große Sachen entstanden. Zum Beispiel, eine furchtbare Herausforderung war selbstverständlich die Pest-Epidemie in den 1340er Jahren. Hundert Jahre danach hatten wir in Europa die Renaissance. Renaissance heißt nicht umsonst Wiedergeburt. Es gibt in der Geschichte der Zukunft viel Platz für Wiedergeburt, und Wiedergeburt, und Wiedergeburt… Wir haben ohne Zweifel die Fähigkeit dazu. Die, die mich kennen, wissen, dass ich generell einen gewissen Optimismus verbreite. Doch woraus speist sich mein Optimismus? Sagen wir, ich kenne die Geschichte – zumindest ein wenig. Es ist eine Geschichte des Überlebens, trotz alldem, trotzdem und trotz dem.


Das klingt sehr ermutigend.

Ich hoffe ja.


Es ist immer wieder eine große Freude, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. Ich hoffe, dass wir das Interesse vieler Menschen für unsere Themen wecken können.

Gleichfalls, ich danke für die wunderbare Fragestellung und für das ganze Gespräch. Ein Dialog, nicht nur ein Austausch von Fragen und Antworten! Es ist eine Freude, Fragen zu beantworten, die ausgezeichnet formuliert sind. Man hat gemerkt, hier hat jemand ernsthaft daran gearbeitet.


Und ich danke Ihnen herzlich, dass sie sich die Zeit dafür genommen haben.