Verschrieben
Es war einer jener Freitagnachmittage an denen mich das milde mediterrane Wetter eher irritierte als beruhigte. Natürlich ist auch mir die Theorie bekannt die besagt, dass unser Körper unter Sonneneinstrahlung genug Vitamin D und Glückshormone produziert, um eine Bombenstimmung zu erzeugen, doch in meinem Fall stand diesmal der Buchstabe „D” eher für Depression.
Ich empfand es einfach als unfair, an so einem schönen Ferienort arbeiten zu müssen, anstatt mich in Meer und Wasser auszutoben, wie es die meisten Menschen taten, die ab und zu an unserem Bürofenster vorbeischlenderten. Traurig saß ich vor meinem Computer, sinnierte über eine bessere Welt und schmollte.
Dazu kam noch, dass es ein Freitag war! An solchen Tagen war mein Freiheitsdrang viel stärker als die Freude über das scheinbare Privileg, an einem malerischen Platz leben zu dürfen. Denn anstelle ausgiebigen Faulenzens warteten wochenends auf mich zu Hause weitere Arbeiten, die sich im Laufe der „normalen” Arbeitstage angehäuft hatten.
Mein einziger Trost bestand daran, dass ich mich in Haus und Garten zumindest ein bisschen mehr bewegen konnte, als in den vier Räumen unseres Büros. Kurz gefasst, ich konnte kaum erwarten, dass endlich die Uhrzeit erreicht war, an der ich unser Immobiliengeschäft abriegeln durfte, um nach Hause zu gehen.
Als hätte der Satan selbst meine Gedanken gelesen, trat plötzlich ein merkwürdiger junger Mann in die Tür, der gar nicht nach Kunde aussah. Sorglos strahlte er die aufgesetzte Freude aus, die den Drückerkolonnen so eigen ist. Wenn der nur gewusst hätte, welch düstere Gedanken in meinem Kopf kreisten!
Im Gegensatz zu vielen Straßenhändlern, die einen sofort in schwulstige Wortgebilde einwickeln, blieb dieser Typ mitten im Raum stehen und schwieg mich an. Bescheiden hielt er einen Stapel Faltblätter in der Hand und machte keine Anstalten, mir eines davon überreichen zu wollen. Von meiner miesen Stimmung blieb er völlig unberührt. Das brachte mich erst recht auf die Palme!
Ich erkannte in ihm ein gefundenes Fressen und schleuderte ihm wuchtig den unfreundlichsten Gruß zu dem ich fähig bin entgegen. Ich schätze, mein Blick hätte ihn auf der Stelle töten können, doch er schien davon nicht beeindruckt zu sein.
Als ob es nicht genug wäre, dass er es wagte, meine Kreise zu stören, fiel mir auf, dass er fürchterlich stotterte. Also musste ich mich auch noch anstrengen um ihn zu verstehen… Ja, war das überhaupt Spanisch, was er da brabbelte?
Ihm zuzusehen, wie er sich quälte, verzweifelt versuchend sich verständlich auszudrücken, tat mir fast körperlich weh. Jedes einzelne Wort verlangte ihm eine Menge Kraft ab. Er rang nach Luft und zog die Buchstaben in der Länge, als ob er bald seine ganze Seele darauf gesetzt hätte. So ein armer Kerl!
Ich fragte mich ernsthaft wie wichtig ihm wohl das war, was er mir unbedingt sagen wollte, wenn er sich so krampfhaft dafür einsetzte.
„Hoffentlich bettelt er nicht um Almosen!”, schoss es mir durch den Kopf.
Also schluckte ich meinen Groll runter und beherrschte mich so gut wie es ging, um ihn nicht noch mehr einzuschüchtern. Der Typ war ja schon genug bestraft. Vorsichtig machte ich mich daran, ihn möglichst sanft abzuwimmeln.
Es dauerte nicht lange bis ich erleichtert feststellen konnte, dass er nicht die Absicht hatte, seine Behinderung zu Geld zu machen. Stolz eröffnete er mir, dass er ehrenwürdiger Handelsvertäter einer Firma sei, die umweltfreundliche, natürliche, restlos abbaubare Reinigungsprodukte herstellte. Dann fügte er hinzu, dass ihm klar sei, wie sehr er störte und er wolle auch gleich wieder verschwinden, doch nicht bevor er mir etwas Wichtiges gesagt hatte. Ich rollte demonstrativ mit den Augen und schonte ihn nicht mit meinen genervten Blicken.
Ich müsse mich öfter an der freien Luft bewegen, eröffnete er mir. Als ob ich das nicht selbst wüsste! Dann riet er mir auch noch zu Wandern, am besten in Wäldern, oder einfach durch unberührte Natur.
„Scherzkeks!”, dachte ich mir. „Was bildet der sich ein, dass er mich so mir nichts dir nichts per Du anspricht und mit ungebetenen Ratschlägen überfällt?”. Ich spürte wie mein Unmut blitzschnell zurück in gefährliche Höhen schoss.
„Das geht dich nichts an”, bemerkte ich kurz und trocken. Dann fuhr ich fort, meinen Frust bei ihm abzuladen:
„Du glaubst doch wohl nicht, dass du mich mit diesem billigen dazu bringst deine Produkte zu kaufen?!”, sagte ich wütend, in einem Atemzug.
Innerlich fühlte ich mich trotzdem ein bisschen schuldig und irgendwie ertappt, denn im Grunde hatte er genau den Punkt getroffen, der mir weh tat. Ganz schnell machte ich die kleine Pforte in meinem Herzen, die ihm erlaubt hatte, so tief hinein zu blicken, wieder zu. Doch wie konnte er von meiner Leidenschaft zum Wandern wissen?
Sichtlich angestrengt erklärte er mir dass er wegen seiner angeborenen Behinderung ein gewisses Gespür für Dinge entwickelt hatte, die oft ungern von den Menschen in Worte gefasst wurden. Dinge, die man meint, besser zu ignorieren, in der Hoffnung dass sie irgendwann von alleine aufhören uns zu quälen. Inzwischen konnte er ganz gut, anhand unwillkürlicher Gesten oder Ticks die Emotionen der Menschen erraten und wissen was ihnen fehlte. Bei mir hatte er das Bedürfnis nach räumlicher Freiheit und nach unberührter Natur erspürt.
Na ja, quälen hätte ich jetzt nicht dazu gesagt, aber gepiesackt hatte mich schon immer die Tatsache, dass ich nicht genug Zeit hatte, um meinen Hobbys zu frönen. Darunter standen Bergsteigen und Trekking an vorderer Stelle.
Der etwa zwanzigjährige Mann meinte, genau diese unterdrückten Wünsche seien die, die am meisten zählen, und wenn man ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte, dann würde es nie gut enden. Tja, wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre…
Und noch etwas hatte er bei mir gesehen: dass ich meine Worte bewusst zurückhielt und dabei einen enormen Kauftaufwand betrieb. Dieser Vergeudung müsse ich sofort ein Ende machen und die Energie, die sich aufgestaut hatte, z.B. in eine vernünftige Schreibtätigkeit investieren.
Heilige Maria, der Kerl hatte Nerven! Das ging mir jetzt entschieden zu weit. Es war nämlich so, dass ich schon als Kind eine gewisse Neigung zum Schreiben aufweisen konnte, doch meine Eltern, die sich beide beruflich mit Literatur befassten, rieten mir davon ab, dieses karge Brot der Schriftsteller als Beruf anzustreben. Stattdessen schickten sie mich auf praktisch veranlagte Schulen, um einen „vernünftigen” Beruf zu erlernen. „Wenn du nachher immer noch schreiben möchtest, kannst du es ja jederzeit machen”, redeten sie auf mich mit Engelszungen ein.
Dass ich später, durch Bildungsstau und eine völlig andere Laufbahn, abgelenkt sein würde und mich von meiner angestrebten Schreibfreiheit immer weiter entfernen würde, daran hatten sie gar nicht gedacht. Der Wunsch begleitete mich zwar weiter, aber ich besaß nicht einmal den Mut, ihn mir selbst zu gestehen. Wahrscheinlich hätte ich ihn weiter ignoriert, wäre nicht dieser Junge gekommen, der mich so eindringlich darauf aufmerksam machte.
Er bat mich nicht, das Schreiben anzufangen, nein, er befahl es mir ganz fest und warnte mich, falls ich seinen nicht Rat befolgte, an meiner Bestimmung vorbeizuleben! Bübisch lachte er noch dabei, als sei das ein kinderleichtes Spiel. Mir jedoch stiegen schon die Frusttränen in den Augen. Ich traute mich schon ein bisschen, mich darauf im Voraus zu freuen, doch größer war meine Angst, ich könne meinen eigenen Erwartungen nicht entsprechen.
Dann wiederum dachte ich mir „was wenn es wirklich irgendwie auf meiner Stirn steht”, das ich als Autorin eine gewisse Vorbestimmung hätte”? Doch was tun, wenn mein Talent nur Einbildung gewesen war?
„Mach dir darüber keinen Kopf”, sagte mein Gesprächspartner. „Das wird sich klären, du wirst sehen. Du wirst dich fragen, warum du überhaupt so lange damit gewartet hast.”
Es war das erste mal in meinem Leben, das mir jemand gegenüberstand, der mich nicht vom Schreiben abhalten wollte, sondern mir ausdrücklich dazu riet. Tief in meinem Herzen fühlte sich das richtig gut an, aber ich wollte es ihm auf keinen Fall zeigen. Da ich nie besonders esoterisch gewesen bin, waren mir Gefühlsduseleien suspekt, doch mit oder ohne visionäre Kraft hatte dieser ungewöhnliche Mensch bei mir eine empfindliche Ader getroffen. Das Rezept, das er mir verabreichte, hat seitdem prima funktioniert. Schreiben ist inzwischen für mich zur einer zweiten Natur geworden.
Vermutlich hatte dieser Edgy-Typ eine ähnliche sture Verbissenheit gebraucht, um seinen eigenen Weg durchs Leben zu machen, denn sich mit so einer Behinderung durchzuboxen war sicher nicht einfach. Inzwischen weiß ich, dass er und seine Arbeit geschätzt werden. Es gibt nämlich in unserer Gegend eine Menge Großkunden, auch gerne Arztpraxen, die nur noch seine Reinigungslösung benutzen.
Zurück zu unserem Gespräch von jenem Freitagnachmittag. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich danach noch eine Weile im Büro alleine saß, nachdem der Junge längst gegangen war. Genauso leise und blitzschnell war er verschwunden, wie er erschienen war. Ich weiß es noch, weil ich es plötzlich nicht mehr eilig hatte, eifrig meinem alltäglichen Trott hinterherzulaufen. Es fiel mir schwer, aufzustehen, das Licht auszuschalten, die Tür abzuriegeln, nach Hause zu fahren, Mittagessen vorzubereiten…
Noch bevor er gegangen war, hatte sich mein Interesse gewendet. Auf einmal wollte ich mehr über ihn wissen! Doch ich konnte ihn nur ganz wenig über sein eigenes Schicksal ausfragen, denn er musste gehen. Ich verhielt mich wie der Bauer der zum ersten mal in seinem Leben einen Dunkelhäutigen auf der Straße sieht. Verzweifelt löchert er ihn mit Fragen und will wissen, woher er kommt. „Aus Afrika”, sagt der Gute. „Aus Afrika, schon recht, aber woher aus Afrika, genauer?”, fragt ihn der Bauer erneut. „Na, aus Kongo”. „Ja, ja, aus Kongo, aber wo in Kongo, ganz präzise?”. „Aus Brazzaville”. „Und aus welcher Familie aus Brazzaville, bitte schön?”. Und so weiter…
So erfuhr ich, dass der behinderte junge Mann mit einem Defekt auf die Welt gekommen war: er hatte keinen Gaumen. Das Ironische daran war, dass seine Geburt, als Sohn eines bekannten spanischen Sängers, groß angekündigt und fieberhaft erwartet wurde. Er zeigte mir einen Zeitungsausschnitt, der dies tatsächlich bestätigte und er erzählte mir, dass er, nach wiederholten Operationen, die von den besten Chirurgen des Landes durchgeführt wurden, Schritt für Schritt, in mühevoller Arbeit zu sprechen gelernt hatte.
Im Zeitungsartikel stand auch, dass sein Vater derjenige war, der einem bekannten spanischen Lied, „Mujer”, den Wortlaut komponierte. Donnerwetter, ich kannte dieses Lied! Es war mein LIEBLINGSLIED! Oft sang ich es sogar selbst, begleitet von meiner Gitarre.
Angeblich hatte diese Melodie, die fast jedem im Land bekannt war, jahrzehntelang auf einen Text gewartet, doch keiner hatte sich getraut, dem Stück ein sprachliches Gesicht zu geben. Bis dieser besagte Sänger sich ihm widmete. Und es wurde ein großer Erfolg!
Nun stelle ich mir bildlich vor, dass meine aufgestauten, ungeschriebenen Worte, genauso lange wie der Text von „Mujer” tief in mir geschlummert hatten, bis ich es wagte, ihnen den Weg zum Papier freizugeben. Hätten sich an jenem Freitagnachmittag, an dem es mir gar nicht gut ging, meine Wege nicht mit denen dieses merkwürdigen Jungen gekreuzt, würden meine ungeschriebenen Gedanken wahrscheinlich immer noch in tiefem Schlummer versunken sein.
Übers Wochenende hinauserstreckte sich meine darauffolgende nachdenkliche Phase. Mein Mann fragte mich, ob alles in Ordnung sei und warum ich so still wäre. In nur wenigen Minuten hatte dieser unbekümmerte Spanier es geschafft, mir einen tiefen Eindruck zu hinterlassen. Als ich versuchte, meinem Mann die Merkwürdigkeit dieser Begegnung zu beschreiben gelang es mir nicht.
Jetzt, zwanzig Jahre später, wenn ich mich manchmal beim Schreiben dabei ertappe, wie ich der Versuchung verfalle, überladene Sätze zu konstruieren, denke ich an die schlichte Schönheit und Einfachheit der Sätze dieses Jungen, der regelrecht jedes einzelne Wort mehrfach prüfte, bevor er sich die Kraft nahm, es auszusprechen. Dann sehe ich sein fröhliches Gesicht vor meinen Augen – äußerlich sah er übrigens nicht ungewöhnlich aus ̶ und kann beinahe seine mahnenden Worte hören. Noch fast ein Kind war er und doch so viel reifer als viele von uns!
Wenn ich versuche, mich an die Kunden zu erinnern, die an diesen Freitag unser Büro betraten, fällt mir keiner ein. Fast all die Leute, die damals mit uns geschäftlich zu tun hatten, sind aus meinem Gedächtnis vollkommen verschwunden. Aber diesen Menschen, dessen Namen ich nicht einmal kenne, werde ich nie vergessen. Ihm verdanke ich die Tatsache, dass ich mich jetzt in sauberen, schnörkellosen Worten ausdrücken kann und die Welt aufrecht, mit offenen Augen aufnehmen kann.
All meine großen und kleinen Erfolge, die ich als Autorin ab und zu feiern darf, gehen letztendlich auf ihn zurück. Die Angst, mir vielleicht selbst im Weg zu sein, die mich so lange gebremst hatte, ist seither für immer verschwunden.
Gabriela Sonnenberg
Spanien