Leseprobe aus dem Buch „Vine Seninul“

Essay: „Das kategorische Denken“

Warum fühlen wir uns oft versucht, unsere Mitmenschen in Kategorien zu zwingen? Sobald wir jemanden erwähnen, fällt früher oder später ein Urteil, etwa „das ist einer, der weiß was er will” oder „der ist ein unverbesserlicher Träumer, daran kann man nichts rütteln.”

Neulich kritisierte ein Bekannter die Frauen wegen ihrer angeblichen Unfähigkeit, beim Kochen, die Reststrahlung der Cerankochplatte mit einzubeziehen. Ein anderer war aber empört über bestimmte Frauen, die die Zwischenräume der Gabelzähne beim Spülen nicht ordentlich schrubben. Der Erste ist ein „Radikaler“; er wirft uns in einem Topf, nach dem Motto „Frauen sind alle gleich“. Der zweite ist einen Schritt weiter, er erkennt immerhin zweierlei Sorten: die, die mit Gabeln gut umgehen und die, die schlampigerweise nicht genug Elan in die Spültätigkeit einfließen lassen.

Und siehe da, so einfach habe ich auch die Männer in zwei Kategorien eingeteilt: einerseits die, die auf hohem Niveau verallgemeinern, anderseits diejenigen, die einen Unterschied machen. So setzt man einfach Vorurteile in die Welt!

Nun ja, ob es uns paßt oder nicht, wir denken in solchen Kategorien. Wie sollte man anders mit dieser komplizierten Welt zurechtkommen, wenn man nicht zumindest ein paar Orientierungspunkte hätte? Nur durch grobe Vereinfachung lässt sich der verwirrende menschliche Dschungel durchqueren.

Vor fünfzehn Jahren behauptete meine beste Freundin, Menschen mit kurzen Fingern hätten einen ungehobelten Charakter. Jahre später brachte mir eine Lehrerin bei, daß „echte Damen niemals kurze Haare tragen sollten“. Sie war auch der Meinung, man dürfe sich unter keinen Umständen jemals beeilen. Es nutzt wahrscheinlich nichts wenn ich jetzt erwähne, daß ich seit eh und jäh eher hastig durch die Gegend flitze, schon immer einen flotten Bubikopf getragen habe und von Natur aus mit zehn kurzen, kräftigen Fingern ausgestattet bin. Heißt das etwa ich sei ein böser Mensch? All das passiert mir obwohl ich mit großer Sorgfalt die Gabeln sauber mache und immer versuche, das Cerankochfeld stromsparend zu verwenden.

So kommt es, dass mich des Öfteren Gedankenblitze wie Stromschläge durchfahren und dann bekomme ich Angst, ich könnte mich wohl abseits der Norm benehmen. Zum Beispiel wenn ich einen Friseurtermin zwecks Haare kürzen abmache oder wenn ich mich beim Spaziergang fast am Rennen ertappe, fällt mir die unvermeidliche Frage ein: „bin ich jetzt keine richtige Dame, oder was?“

Sämtliche sinnlose Aussagen, den stupidesten Gesprächen entsprungen, Worte die höchstwahrscheinlich von ihren Rednern längst vergessen worden sind graben sich durch mein Gehirn weiter. Sie trotzen der Zeit, schlüpfen immer wieder aus meinem Unterbewusstsein und quälen mich, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.
Es ist kein Zufall, daß wir oft am Anfang eines beruflichen Gespräches mit der Bitte „können Sie sich kurz vorstellen?“ zu Rede gestellt werden. Als ob es eine Rolle spielte, wie wir uns selbst einschätzten! Für wen halten die uns denn? Doch schließlich ist ihre Frage berechtigt, man möchte gerne wissen mit wem man es zu tun hat.
Wie objektiv kann man bleiben wenn es darum geht, sich selbst korrekt einzuschätzen? Nun mal ehrlich, was sind Sie denn für einer?

Beim Versuch, uns selber besser kennenzulernen, hören wir zu gern auf die Version Anderer über uns. Das Ergebnis ist meist völlig verwirrend. Ich, zum Beispiel, bin aus der Sicht eines ehemaligen Schulkollegen „ein leicht beeinflussbares Gemüt“, welches dazu neigt, „jedem, alles zu glauben“. Meine WG-Kollegen sahen mich zur gleichen Zeit jedoch als „stabil, stur und manchmal sogar rücksichtslos“. Ein Bekanntenehepaar hält mich für „vollkommen humorlos“ während mich eine Emailkorrespondentin neulich mahnte, „mit den Witzenachrichten aufzuhören und endlich dem Ernst des Lebens gebührenden Respekt zu zollen“. So viel zu meinem … Doppelleben. Bin ich wirklich all das noch?

Ich schlage was vor: könnten wir nicht ˗ zwecks Vereinfachung unseres Lebens ˗ einen Fragebogen entwerfen? Bitte! Warum nicht die Eigenschaften eines Menschen akkurat im Multiple-Choice˗Verfahren ankreuzen? Dann hielten wir jederzeit die Kurzversion eines jeden in den Händen, ähnlich wie Onassis all seine Bekanntschaften in seinem Notizheft festhielt.

Zum Beispiel: der ehrenhafte Minister X liebt scharfes Essen, hat eine Schwäche für blonde Frauen, beginnt seine Reden zumeist mit „also“, singt gerne unter der Dusche und nutzt die Schuhsohlen an den Fersen ab. Erstaunlich ist nur, dass seine Ehe noch gut funktioniert, obwohl seine Frau, die berühmte, brünette, rassige Opernsängerin, das Singen unter der Dusche für grauenhaft hält, nur gekochtes Gemüse zu sich nimmt und die Politik verabscheut. Vielleicht stützt sich der momentane Frieden auf seine Sekretärin, diese mollige Blonde mit mütterlichen Charakterzügen, die peinlich darauf achtet, daß der Verlauf der Toilettenpapierrolle immer zur Wand hin zeigt, so wie es Seine Exzellenz mag!

Bei aller Duldsamkeit, mit Verlaub, ich weigere mich zu glauben, dass wir so vorhersehbar sein könnten! Ein Lob der Vorstellung, wonach wir uns jeden Morgen nach dem Aufwachen aufs Neue erfinden und durch neue Taten beweisen!

Als schrieben wir uns täglich auf einem weißen Blatt Papier, dessen Jungfräulichkeit uns wiederholt vor einer prickelnd-überraschenden Aufgabe stellt. An manchen Tagen ist unsere Handschrift unsicher, die Hand zittert, wir wissen nicht einmal ob das Geschriebene überhaupt einen Sinn macht. Es kommt manchmal vor, dass wir abends, bevor wir uns, erschöpft, dem reinigenden Schlaf geben, nicht einmal ahnen, ob wir den letzten Satz mit einem Fragezeichen beenden oder vielleicht doch unvollendet lassen sollten.

Es gibt auch Tage, an denen wir uns vom Ende nach vorne durcharbeiten, ähnlich wie ein arabisches Schriftstück. Das wahre Ziel erreichen wir auf den letzten Drücker, abends, zufrieden wenn wir am oberen linken Ende des Blattes das erste Wort in großen Buchstaben schreiben und darüber ein Titel, der das Wunder des gelebten Tages zusammenfasst.

Falls ich heute friedlich und langsam bin, morgen aber aufbrausend und wirr, bestraft mich bitte nicht! Da ist kein Widerspruch, kein Grund zur Sorge. Die Rolle, die mir zugeteilt wurde, ist nicht immer die gleiche. Ich gebe mir doch Mühe, um herauszufinden wer ich in Wirklichkeit sein soll. Als Beweis, dass ich mich nicht täusche – und mir nichts vortäusche – bekomme ich meistens alptraumfreie Nächte. Und wenn die Träume schön sind, ist das ein Extrabonus sowieso.

Wenn jemand nach meinen Zukunftswünschen fragt, antworte ich, in diesem Sinne: „Ich wünsche mir schöne Träume, jeden Tag“. Dasselbe all den mehr oder weniger kategorisierten Ichs.

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