Heisses Eis
eine (nach-)weihnachtliche Geschichte
Sie wohnte erst seit drei Monaten in Wien und doch fühlte es sich an, als hätte sie seit eh und je schon dort gelebt. Gesichter, Straßen, Plätze, Gebäude, Gerüche, manchmal sogar einzelne Worte waren ihr von Anfang an bekannt vorgekommen. Und das obwohl sie kein Wort Deutsch sprach.
Manchmal glaubte sie, jemand anderes führte ihre Schritte durch die Stadt. Es war fast so, als lebte sie nicht mehr ihr eigenes Leben, sondern das einer Fremden. Das hinderte sie nicht daran, jede einzelne Sekunde genüsslich nach Leibeskräften auszukosten, als wäre es ihre letzte, denn auf Schritt und Tritt war ihr schmerzlich bewusst, dass die Zeit ihres Stipendiums bald vorbei sein würde.
Weihnachten stand vor der Tür und der Gedanke, dass sie das neue Jahr in ihre düstere, osteuropäische Heimat zurückführen würde, lies ihr Herz erkalten. Das feuchte, spätherbstliche Wetter tat sein Übriges.
Schwer und dumpf schlug ihr Herz an diesem 24. Dezember. Das Wasser war nicht ihr Element. Schnee wäre ihr lieber gewesen. „Angeblich erreicht das Wasser ihre größte Dichte bei vier Grad Celsius”, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Tatsächlich zeigte der digitale Bildschirm an der Apotheke 4 Grad Celsius an.
Es fröstelte sie, als sie durch die nassen Straßen des Naschmarkts spazierte. Süße, verführerische Düfte umhüllten sie, aber die Euphorie der Verkäufer und Kunden kam ihr fremd vor. Deren Heiterkeit erschien ihr aufgesetzt. Sie dachte an die Gerüche ihrer Kindheit zurück und hatte plötzlich Appetit auf das klassische Weihnachtsessen aus ihrer Heimat: Krautwickel.
Als sie den serbischen Standverkäufer nach eingelegten Kohlköpfen in ganzen Stücken fragte, strahlte er sie an. Mit triumphaler Geste hob er ein Gebilde, dass streng und sauer roch aus einem Holzfass hervor und hielt es ihr entgegen. Heiligabend war gerettet!
„Was bist du, Rumänin oder Bulgarin?”, fragte er, während er kassierte. War ja klar: niemand sonst kauft so etwas in Wien! Sie dachte an das berühmte rumänische Wunderkind George Enescu, welches einst in Wien seine Mutter um Rat bat: „Darf ich sagen, dass ich Rumäne bin, oder glauben die Leute, dass ich ihnen bloß imponieren will?” Dann tat sie so als hätte sie die Frage des Markthändlers überhört, und eilte davon.
In ihrem Fall hielt sich der Stolz in Grenzen. Die guten alten Zeiten waren vorbei. Nur noch eine Woche durfte sie in Österreich bleiben…Viele ihrer Kollegen waren schon nach Hause geflogen, um die Feiertage inmitten ihrer Familien zu verbringen. Sie nicht. Das hatte noch Zeit.
Sie dachte an ihre Lieben zurück, die hoffnungsvoll auf sie warteten; und an die Kollegen am Institut, die sie deutlich spüren lassen würden, wie schwer sie geschuftet hatten, während sie es sich im Ausland gut gehen ließ. Dann dachte sie an ihren Ehemann. Sie hatten jung geheiratet. Zu jung. Eine gemeinsame Zukunft war kaum noch vorstellbar. Sie wusste es, er wusste es noch nicht.
Ein ohrenbetäubender Knaller krachte ganz in ihrer Nähe und vertrieb ihre dunklen Gedanken. Sie schrak zusammen und dachte an das Diktatorenehepaar, dass just vor einem Jahr, punktgenau zu Weihnachten, den letzten lauten Schuss seines Lebens hörte, bevor es ins Jenseits befördert wurde. Na ja, im Vergleich zu denen ging es ihr persönlich eigentlich sehr gut.
Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf die brav aneinandergereihten Weihnachtsbäume und erschrak vor den Preisen. Viel zu teuer für ihr Portemonnaie!
Dann ging´s ab in die Küche. Das Formen der Krautrouladen entzerrte ihre Gedanken. Eine beruhigende Tätigkeit.
Nun fehlte es nur noch an festlicher Dekoration, doch ihr fiel nichts ein, was als Weihnachtsschmuck herhalten könnte. „Schade”, dachte sie, „darüber hätte ihre WG-Kollegin nicht schlecht gestaunt. Ob sie bald nach Hause kommt?”, fragte sie sich und warf einen Blick nach draußen.
Und dann sah sie den Schnee! Er kam wie bestellt! Immer noch schwarz glänzte der nasse Asphalt im Licht der Abenddämmerung, aber dicke Flocken tanzten fröhlich um die Straßenlaternen. Dieser Aggregatzustand des Wassers gefiel ihr viel besser!
Die friedliche Stimmung löste ihre innerliche Spannung auf. Die frische Luft, die durchs Fenster drang, weckte ihren unternehmerischen Geist. Ihr fielen die „armen” Weihnachtsbäume vom Markt ein.
„Um acht Uhr macht der Markt zu. Vielleicht sind sie jetzt billiger. Es lohnt sich zumindest einmal nachzuschauen”, überlegte sie kurz.
Ihre Wohnungsgefährtin machte gerade die Tür auf, als sie sie an den Schultern packte und umdrehte. „Komm mit!”, befahl sie ihr mit ungewohnt forschem Ton (sonst war eher die andere frech und entschlossen). Ohne Widerspruch ging die Polin mit.
Mühsam bahnten sie sich ihren Weg durchs Schneegestöber und sangen lachend durcheinandergemischte polnische und rumänische Weihnachtslieder. Am Nachmarkt angelangt erhielt jedoch ihr Elan einen kräftigen Dämpfer. Dort war´s dunkel und menschenleer. Nur noch ein riesiger Haufen zerschnittener Tannen stand da. Die Händler hatten anscheinend alles kurz und klein geschnitten, um sich die zusätzliche Arbeit des Wegtragens zu ersparen.
Ihre Wangen waren kälter als die Schneeflocken, aber die Tränen wollten einfach nicht gefrieren. Ihr war bekannt, dass unterkühltes Wasser auch weit unterhalb des Gefrierpunktes flüssig bleibt, aber dafür brauchte es ungeheuer niedrige Temperaturen und sehr hohen Druck. Innerlich fiebernd und unter sehr hohem emotionalem Druck, fühlte sie sich irgendwie ähnlich, als wäre sie aus Widersprüchen zusammengeflickt… Angeblich schluckt das „heiße”, superionische Eis das Licht. Deswegen erscheint es einem schwarz. Für eine Augenblick sah auch sie nur noch schwarz.
Doch ihr blieb nicht viel Zeit zum Überlegen, denn ihre sonst so unterkühlte Zimmerkollegin lies einen Freudenschrei los. Dann zeigte sie aufgeregt auf einem Tannenhaufen, der anders als der Rest aussah. Es waren edlen Tannen, mit silbrigem, unübertroffenem Glanz, fast unversehrt, lediglich ein einziges mal in der Mitte geschnitten. Wahrscheinlich hatten sie dem Händler leidgetan, so schön wie sie waren! Zu schön um barbarisch verstümmelt zu enden…
Eifrig suchten sie sich einen buschigen Stamm und eine dazu passende Spitze zusammen. Am Ende konnte sich ihre Beute konnte sehr wohl sehen lassen. Voller Stolz und Vorfreude trugen sie die zwei wunderschönen Teile nach Hause.
Als Baumständer funktionierten sie schnell den großen Papierkorb um, dessen Schwingdeckel wie dafür gemacht war. Mit einem roten Seidenschal banden sie die kerzengerade Spitze auf dem Baumstamm fest. Bald gesellten sich zahlreiche Ohrringe und glitzernde Halsketten dazu, gespendet von Mitbewohnerinnen, die auch nicht in ihren Heimatländern feiern konnten oder wollten. Echter und unechter, kostbarer und billiger, schlichter und komplizierter, moderner und alter Schmuck aus allen Herren Ländern baumelte fröhlich und friedlich vor sich hin. Noch nie hatte es im Heim des Akademischen Austauschdienstes einen schöneren und fröhlicher vielsprachig besungenen Weihnachtsbaum gegeben!
Die drei Schönheitschirurgen aus dem dritten Stock folgten dem Duft des Sauerkrauts und klingelten mit jeweils einer Wodkaflasche in der Hand an der Tür. Ihr Vorrat war legendär, man munkelte sogar, dass sie die flüssige Nahrung einsetzten, um dem Fingerzittern bei der Skalpellführung entgegenzuwirken. Mit ihnen ging dann die Party richtig los.
Irgendwann nach Mitternacht, merkte auch sie wie sich der Druck um ihr Herz lockerte. Nur noch einen kurzen Blick richtete sie nach innen, um den Zustand ihres Gemüts zu prüfen. „Man vermutet heißes, schwarzes komprimiertes Eis im Inneren von Uranus und Neptun. In Fachkreisen weiß man, dass man ein solch unterkühltes Eis erwärmen muss, um es zu gefrieren”, schoss ihr durch den Kopf.
Sie erinnerte sich an ihre Mutter, die manchmal, im strengen Winter ihrer Heimat, die Wäsche draußen, an die Leine hing. Anstatt zu gefrieren, ging das Wasser direkt in den gasförmigen Aggregatszustand über und löste sich in der eiskalten Luft auf. Genauso erging es ihren düsteren Gedanken, die sich scheinbar in der Luft verflüchtigten und die wässrige Daseinsform als Tränen einfach übersprangen.
In ihrem Herz war es inzwischen gemütlich und still. Die Zukunft begann Gestalt zu nehmen, aber es war keine bedrohliche mehr. Sie zeichnete sich vor der Dunkelheit ihres alltäglichen Lebens hell ab, wie eine luftige, weiße Schneedecke, die auf dem schwererem Wasser schwimmt.