Sieben transsylvanische Himmel
Seit eh und je haben die Siebenbürgen-Sachsen einen schweren Eindruck auf ihre rumänischen Nachbarn ausgeübt. Ihre disziplinierte, ruhige Art, den Alltag zu bewältigten stand immer im krassen Unterschied zur Improvisationstechnik der Rumänen, die sich kopfüber in den Tag hineinstürzen, hoffend, dass alles gut gehe.
So kommt es, dass sich eine sympathische Wärme um mein Herz legt, wenn ich mal wieder Kontakt mit meiner alten Heimat, Siebenbürgen aufnehme. Denn es erinnert mich an meine glückliche Kindheit, inmitten dieses bunten, regen Treibens, dominiert von der Ruhe der Sachsen, aber gewürzt durch die Einflüsse der Rumänen, Ungarn, Zigeuner und vieler anderen Nationalitäten, die alle offensichtlich prächtig miteinander auskommen. Eine gute Lektion für das zerstrittene Europa von heute!
Übrigens, die Rumänen selbst bezeichnen sich auf Deutsch als Rumäner, mit „r“ am Ende. Genauso wie die Italiener, teilen sie sich in Rumänerin und Rumäner auf. Man sagt ja auch nicht „Italier“ und „Italierin“. Aber das ist nur so, eine Ansichtssache. Das Deutsch, das in Siebenbürgen gesprochen wird klingt manchmal sehr urig.
Der Einfluss der Siebenbürgen-Sachsen macht sich unbeirrt weiter bemerkbar, obwohl mittlerweile fast alle nach Deutschland ausgewandert sind. Anders als im restlichen Land achtet man generell in und um Hermannstadt strenger auf Regeln und Kleinigkeiten wie Verkehrsschilder, Straßensauberkeit, oder einen angemessenen Umgang mit der Sprache.
Für mich ist offensichtlich, dass ihre Kultur nicht erlischt. Die wenigen zurückgebliebenen Siebenbürgen-Sachsen unken hingegen bitter über die Zukunft und kritisieren offen die Entscheidung der Auswanderer, die angeblich durch ihren Exodus in den Westen eine Art Selbstvernichtung ihrer Volksgruppe vollbracht hätten.
Auf der Suche nach Argumenten für meine These des, na ja, man könnte es fast „Fortbestehendes Guten“ nennen, besuchte ich neulich, obwohl ich keine Kirchengängerin bin, das Landeskirchliche Museum der Evangelischen Kirche in Hermannstadt.
Ein etwas gelangweilter Herr Peter öffnete mir dort die Tür und knipste das Licht an. Abgesehen vom diesem Herrn Petrus, der buchstäblich, fast wie in der Bibel, den Schlüssel zum Eingangstor hütete, irrte ich ganz alleine durch eine wunderschön angelegte Einrichtung, die teilweise dank institutioneller Unterstützung durch Investitionen aus Deutschland entstand.
Beim Anblick der dunklen, verschlungenen Gänge des Museums packte mich trotzdem ein bisschen die Panik. Was wenn mich der gute Herr dort drinnen vergessen sollte? Sachte beruhigte mich der Mann und erklärte mir, dass ich, wenn ich brav dem ausgeschilderten Pfad durch die Säle folgte, automatisch irgendwann vor der Ausgangstür landen müsste.Und diese sei immer von innen aufgesperrt. „Wie die ehemaligen Wehrkirchen“, bemerkte ich, „von innen auf, von außen zu“. Wir sprachen natürlich Deutsch.
Im schummrigen Licht leuchteten die Vitrinen wie Wegweiser. Die erste Station verkündete prompt, dass die Sachsen gar keine Sachsen sind, sondern eine Ansammlung verschiedenster Menschen, die alle der deutschen Sprache mächtig waren und um das Jahr 1200 im östlichen Teil des damals ungarisch regierten Imperiums angesiedelt wurden, um den Westen vor den Invasionen der barbarischen Eindringlinge aus Asien zu schützen. Natürlich hat man diese Leute mit Privilegien und Eigentumsversprechungen geholt. Und, ob man das glaubt oder nicht, fast all diese Versprechungen wurden eingehalten. Damals! Ich muss nochmal kurz an die Politiker von heute denken.
Völkerwanderungen sind so alt wie die Menschheitsgeschichte. Es kamen damals Familien aus dem heutigen Bayern oder aus dem Schwabenländle, aber auch aus Luxemburg und vielen anderen Regionen. Somit hält bis dato dasRätsel über den Ursprung der Deutschen, die buchstäblich hinter den Wäldern lebten (Trans-Sylvanien,aus dem Lateinischen) eine ganze Schar Historiker, Archäologen, Sprachwissenschaftler und Ethnografen auf Trab.
Natürlich weckte dieses Geheimnis meine Neugier. Mein Besuch im Museum versprach also auch noch spannend zu sein! Dazu kam, dass sich die meisten Einsiedler hauptsächlich aus Streben nach einem freieren Leben auf dem Weg machten. Da ich selbst Auswanderin bin, sprach mich diese Tatsache zusätzlich an. Denn, seien wir ehrlich, wer spielt nicht ab und zu mit dem Gedanken, alles neu anzufangen, und zwar richtig, mit dem allerersten Stein?!
Doch zurück zu den Anfängen: die ersten Siedlungen waren eher klein und bescheiden, aber praktisch. Sie bestanden aus einer einzigen Straße, mit vierzehn Höfen, am Ende mit einem Tor versehen und von einemZaun oder Dornenhecke umgeben. Jedes Grundstück hatte Zugang zumWasser. Das war selbstverständlich. Davor befand sich der gemeinsam genutzte Anger. Ein Stück weiter fingen die Felder an, welche periodisch aufgeteilt wurden, in denen jeder Familie ein „Losfeld” zustand. Die Kirche stand meistens auf einer nahe gelegenen Anhöhe. Felder und Siedlungen wurden später erweitert, aber der Ortskern blieb immer an derselben Stelle.
„Warum ausgerechnet vierzehn?”, schoss es mir durch den Kopf und dann fiel mir auf, dass es durch sieben teilbar war. Ob das ein Zufall war? Die Zahl sieben scheint eine große Bedeutung für Siebenbürger gehabt zu haben. Tatsächlich heißt das Land Siebenbürgen so, weil es aus administrativen Gründen in sieben Grossbezirke aufgeteilt wurde. Es fing also alles mit einer sieben an.
Ein beliebter Zungenbrecher in Rumänien lautet: „Șase sași în șasesaci” (Sechs Sachsen in sechs Säcken). Doch wo bleibt der Siebte? Wohl unterwegs in der Weltgeschichte. Schicksal…
Der Pfarrer spielte von Anfang an eine bedeutende Rolle, aber nicht weildem Pfarrhof zwei gewöhnliche Hofstellen zustanden und auch nichtwegen des Zehntrechts, der ihm eine Sonderstellung einbrachte, die ihn auf einer dem Adel ähnlichen Stufe hob. Vielmehr gelang es denPfarrern, die immer an Universitäten im Ausland studierten, durchihre Wechselwirkung zwischen Geistlichkeit und Volk ein gewisses Gleichgewicht zu halten und den Zusammenhalt zu fördern.
Selbst auf mich, damals im zarten Kindergartenalter, übte der bildungsfördernde und sanft erzieherische Einfluss unseres Nachbarn,der evangelische Pfarrer, einen bleibenden Eindruck aus. Als Töchter des noch jungen und relativ mittellosen Lehrerehpaars des Dorfes, welches im Hause der sächsischen Kirchendiener einquartiert wurde, spielten meine Schwester und ich jeden Tag auf dem Hof mit des Pfarres Kinder und wurden praktisch mit ihnen zusammen groß.
IhrName war Thalmann. Für mich war es damals klar, dass sie nur so heißen konnten, schließlich hieß auch unser Ort Talmesch (und das tut er bis heute, aber die Thalmanns leben seit Jahrzehnten in Deutschland).
Seit dem Mittelalter, wurden nach und nach die Kirchen zu Verteidigungsanlagen umgebaut und verwandelten sich in „… nichtnur des Reiches, sondern der ganzen Christenheit schirmendes Bollwerk, Mauer und Schild”, wie sie einst Papst Eugen IV. bezeichnete (1431 – 1442). In den Zeiten der Belagerung fand dort der „dörfliche Alltag” statt – bis hin zum Schulbetrieb.
Und wieder verschlug es mir die Sprache als ich die als Museumsausstellungstück, durch eine Kette von mir abgetrennte Schulbank sah, die bis aufs kleinste Detail derjenigen ähnelte, inder ich meine ersten vier Schuljahren in der Deutschen Grundschule absolviert habe. So alt bin ich also schon?! Als hätte man sie auseinem einzigen Holzblock gemeißelt stand sie fest, vor meinen aufgerissenen Augen: quadratisch, praktisch, gut und dazu noch scheinbar ewig. Plötzlich kam mir der Lieblingsspruch unserer damaligen Schulmeisterin, Frau Engber in den Sinn: „Egalité, fratenité, Schule!”
Mit der Reformation wurde das bis dahin allein an der Kirchenkanzel zugelassene Latein durch die Muttersprache ersetzt. Generell kam die Kirche dem Volk näher. Unter den ausgestellten Prachtstücken, die beim Gottesdienst zu besonderen Anlässen als Messgegenstände dienten, glänzten in den Vitrinen die prächtigen Pokale, die den klangvollen lateinischem Namen Vasa Sacra tragen.Als ich diese reich verzierten Gefäße und Geräte sah, die ausschließlich bei der Sakramentsfeier des Abendmahls gebraucht und dafür geweiht wurden, schlug mein Herz voller Stolz höher. Die siebenbürgischen Gold- und Silberschmiede vollbrachten europäische Spitzenleistung. Na klar, wie denn sonst?! Genau so behalte auch ich die Sachsen in Erinnerung: hervorragende Handwerker die, wenn sie etwas beginnen, es bestmöglich vollenden. Unter Rumänen munkelt man: „Der Sachse kommt mit einem Schraubenzieher in der Hand auf die Welt”.
Doch nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Auswanderung aus dem wirtschaftlich gebeuteten und diktatorisch drangsalierten Land. Zuerst verlief das zögerlich, in kleinen vereinbarten Mengen, die quotiert waren (das kommunistische Regime ließ sich sogar für jeden, der ging einen hohen Betrag als Kopfgeld auszahlen!). Der Höhepunkt wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, im Winter 1989 erreicht. Nach fortwährenden 800 Jahren verlor die Evangelische Kirche und somit ganz Siebenbürgen schlagartig 90% der Belegschaft. Während 1930 etwa 300.000 Deutsche in Siebenbürgen lebten, waren es im Jahre 2007 nur noch knapp 15.000. Eine Tragödie!
„Über sieben Brücken musst du gehen” ist das Lied, dass dem rumänisch-banater Peter Maffay zum ersten Platz als Rock Star in Deutschland verhalf. Vielleicht meinte er damit auch die vielen Brücken, die seine Landsleute überquerten als sie das, früher wie heute besungene Siebenbürgen, süße Heimat hinter sich ließen. Sie taten es wieder aufgrund von Versprechungen, weil sie Freiheit und ein besseres Leben anstrebten. Inzwischen fragen sich aber immer mehr unter ihnen, ob sich der hochgepriesene Siebte Himmel wirklich im Ausland befindet. Es sieht eher aus, als wären sie dort zwischenden Stühlen gelandet. Doch gibt es überhaupt noch einen Weg zurück?
Für dieses Dilemma haben die erfinderischen Rumänen eine einfache Lösung gefunden. Ihrer Ansicht nach hat der Himmel nicht sieben, sondern neun Stufen. Kein Witz! Der sprichwörtliche siebte Himmel ist in Rumänien der neunte!
Vielleicht haben die Rumänen aus ihrer stürmischen Geschichte mehr als die Sachsen gelernt und wissen jetzt, dass man sich, öfter als man denkt, aus der eigenen Asche erheben kann und dass man, für alleFälle, stets ein Paar mehr Alternativen im Ärmel bereithalten sollte. Oder vielleicht haben sie sich, als tief abergläubisches Volk, diese Strategie bei den Katzen abgeschaut, die bekanntlich neun Leben haben sollen.
Im Saal der Trachten und Festbräuchen bewunderte ich nochmals die prächtigen Gewänder, die mich schon als Kind faszinierten. Als kleines Mädchen bestand ich darauf, mein eigenes Dirndl zu haben und trug es stolz auf Schulfeiern, wenn unsere Klasse, in einer Reihe aufgestellt, Blockflöte oder Gitarre spielte. Die Klänge der Adjuvantenkapelle,die sowohl auf Hochzeiten wie auch auf Trauerzügen unverzichtbar war, sind wohl die ersten Musiktöne, die mein kindliches Ohr erfasst haben muss. Bis heute mag ich Blasmusik und riskiere ohne zu munkeln, durch meinen altmodischen Geschmack aufzufallen.
An den Tänzen der etwas älteren Generation durfte ich damals noch nicht teilnehmen, aber ich sah sie mir begierig an und versuchte zuweilen, die komplizierte Choreografie ihres Maibaumtanzes zu entziffern. Dieses um den kräftigen Stamm Aneinander-, Vorbei- und Zwischeneinander schreiten, drunter- und drübergehend, während sich der bunte Stoffband um den Pfeiler fast wie von selbst symmetrisch windet faszinierte mich total.
Rituale und Trachten, die wahrscheinlich damals schon in Deutschland zur Vergangenheit gehörten, wurden in Siebenbürgen wie selbstverständlich weitergeführt und durch und durch gelebt. Wen wundert´s, dass ich heute noch den Ritualen verfallen bin?!
Selberbrachte ich es damals lediglich bis zur Herumhopserei zu Pfingsten, in der fabelhaft geschmückten Grünen Scheune, während ich dabei inbrünstig, Ton in Ton mit den anderen Kindern sang: NassesGras, nasses Grass/ Unter meinen Füssen./ Hab verloren meinenSchatz/, Suche wen ich grüße…
Bevor ich das Museum verließ sah ich nochmal vor meinem inneren Auge den Kreis der kräftigen Burschen, die auf ihren überkreuzten Unterarmen die Mädchen trugen. Sie bildeten einen Kreis der sich wie ein Rad um den Maibaum, der als Zentralachse fungierte, drehte. Die Gesichter der Mädchen waren den Zuschauern zugewandt und man sah, wie sehr sie sich anstrengten, indem sie sich mit den Fingern an den Schultern der Jungs festkrallten, um nicht herunterzufallen. Das teuflische Rad drehte sich immer schneller, im Rhythmus der Musik. Ähnlich einem Abschiedsgruß flatterten die bunt verzierten, bestickten Haarschleifen der Mädchen im Wind. Es war einmal…
Während ich meine Eindrücke im Gästebuch des Museums verzeichnete ging die Tinte des hauseigenen Kugelschreibers aus. Ich schrieb viel und wurde etwas sentimental, was gar nicht meinem Stil entspricht. Die Möglichkeit, 800 Jahre Geschichte einfach so von uns zu weisen erschien mir immer noch als nicht fair.
Ich drückte die alte Türklinke, die der im alten Haus meiner Oma ähnelte, und ging raus. Herr Peter erwartete mich etwas ungeduldig,denn mein Besuch hatte länger als geplant gedauert und sein Feierabend hatte eigentlich schon begonnen. Wäre ich früher gekommen, hätte ich mir auch die Filme über die Geschichte derSiebenbürger anschauen können, eröffnete er mir.
„Aber vielleicht schauen sie ein andermal wieder vorbei”, fügte er ohne viel Überzeugung bei.
Ich schenkte ihm meinen Stift, als milde Gabe zwecks weiterer Eintragungen ins Gästebuch, welches mir eher wie ein Kondolenzbuch vorkam. Dann sagte ich ihm, dass ich etwas darüber schreiben werde,weil ich überzeugt bin, dass die Geschichte weiter gehen muss.
Er lachte bittersüß und meinte: „Niemals kommen die Sachsen zurück!”
„Das habe ich auch nicht behauptet,” erwiderte ich.
„Ja, was denn sonst?”, fragte er mich daraufhin.
Mir vielen die Worte des Romanautors Eginald Schlattner ein, guter Freund , und fester Verfechter der „Fraktion der Daheimgebliebenen”, Pfarrer in einem nah gelegenen Dorf, der jeden Sonntag in seiner Kirche, vor leeren Bänken, seine Predigt hält: „Für unsereinen scheint es in Rumänien bequemer, ein Deutscher zu sein, als in der Bundesrepublik Deutschland. (…) Wenn man Pech hat, wird man dort als Zigeuner schlechtgemacht, meistens als Rumäne gering geschätzt, mit Glück als Deutschstämmiger eingestuft. (…) Letzteres ist schon sprachlich Unsinn, da es den deutschen Stamm nicht gibt.”
Heute überkam mich die Lust, den Siebenbürger-Sachsen nicht nur meinen Stift, sondern auch meine Stimme zu leihen und schrieb diesenBericht, weil ich, dem Pfarrer Schlattner ähnlich, glaube das wir es „mit einem Gott zu tun haben, dessen Fantasie all unsere Vorhersehungen übertrifft.”
Wer weis, vielleicht hat auch der Himmel der Siebenbürgen-Sachsen mehr als nur sieben „deutsche” Stockwerke.
Gabriela Sonnenberg
Spanien, November 2018