Der Direktor und „sein“ Lyzeum
Erst heute, wenn ich auf meine glückliche Kindheit in Talmesch zurückblicke, stelle ich fest wie wichtig es für mich war, inmitten einer derartig bunten Vielfalt an Nationen aufzuwachsen. Dem frühen und alltäglichen Kontakt mit verschiedenen Kulturen verdanke ich die unkomplizierte Art, in der ich mich frei und unmissverständlich in meinen Wahlheimaten Deutschland und Spanien bewege und ausdrücke. Und das ist kein kleines Geschenk, wenn man bedenkt wie viele Menschen große Schwierigkeiten mit der Selbstfindung im Ausland haben.
Ich weiß, ich bin nicht die Einzige, die so fühlt, denn meine Vermutung bestätigt sich immer wieder aufs Neue, sobald ich Talmescher treffe. Sie verbreiten eine Vertrautheit, die nicht nur ihre ehemaligen Mitbürger, sondern auch die Nicht-Talmescher in einer herzlichen Selbstverständlichkeit umhüllt.
Allein ein Blick auf unsere damalige Straße durfte reichen, um ein Bild des ordentlich durchgemischtes Kleinuniversums zu vermitteln. Nicht umsonst trug unser Wohngebiet die Bezeichnung „Lumea Nouă“ (Neue Welt)!
Das Berufsspektrum unserer Nachbaren war überwältigend: von Arzt, Offizier, Polizist und Lehrer ging es hin bis zu Bäcker, Viehzüchter, Schafhirt, Schuster, Schneider, Gerber, Fabrikarbeiter, Automechaniker, Lastkraftwagenfahrer, Imker und weiß Gott noch was es da alles gab.
Wir Kinder spielten zusammen und bedienten uns dabei eines abenteuerlichen Sprachgemisches, was niemanden störte. Die Erwachsenen kümmerten sich nicht viel um uns, aber das, was sie uns auf den Weg mitgaben, prägten wir uns gut ein. Ergänzt durch die schulische Ausbildung wurde dann unsere Bagage fürs Leben optimal abgerundet.
Sachsen und Landler, Rumänen und Ungaren, aber auch ein italienisches Großelternehepaar – Nonna und Nonu, wahrscheinlich Nachfahren einer Arbeiterfamilie aus dem ehemaligen Feltrinelli-Sägewerk – wohnten dicht beieinander. Natürlich gab es auch braunhäutige Vertreter eines lebhaften Nomadenvolkes ungeklärten Ursprungs, die mein Vater als „Franzosen“ zu bezeichnen pflegte. Damit vermied er Ärger, schließlich war er von Beruf Lehrer, musste also mit gutem Beispiel vorangehen und niemanden beleidigen…. Diese Bezeichnung gefiel den Betroffenen sehr wohl. Dadurch fühlten sie sich geschmeichelt, denn sie klang wie ein kleiner Ritterschlag.
Doch mein Vater war nicht nur Lehrer. Bekannt wurde er jahrzehntelang schlicht und einfach als „Herr Direktor“, mit Spitznamen „Omu“ (zu Deutsch „Mensch“). Den verdankte er seiner Angewohnheit, die Schüler, die er tadeln wollte, mit dem Ruf „Omule!“ aufzuscheuchen.
Als Begründung seines Rufes erzählte er uns eine wahre Geschichte über den berühmten Philosophen Schopenhauer. Dieser soll eine Hündin gehabt haben, die Wanda hieß (das bedeutet auf Hebräisch „Reinheit“). Immer wenn er die Hündin für gute Taten loben wollte, rief er sie bei ihrem schönen Namen. Falls sie aber etwas Unangemessenes anstellte, beschimpfte er sie lieber mit „Mensch“.
Ähnlich wie Schopenhauer war auch mein Vater überzeugt, dass die Tiere den Menschen überlegen seien. „Wenn dir beim Nach-Hause-Kommen der Hund wedelnden Schwanzes entgegenkommt, dann kannst du sicher sein, dass er sich auf dich ehrlich freut. Falls sich dir aber ein Mensch auf ähnlicher Weise, betont schmeichelnd nähert, gib große Acht. Nicht fernhalten, davonlaufen solltest du, und zwar so schnell wie du kannst!“, pflegte er uns zu warnen.
Wie dem auch sei, seine Ratschläge hielten uns keineswegs auf Distanz. Wir ließen es uns nicht nehmen, jedes Mal wenn er von der Arbeit kam, ihm fröhlich entgegenzulaufen, denn er war fast immer gut gelaunt und brachte meistens gute Geschichten mit. Der Rufname „Omu“ passte zu gut ihm, denn er war durch und durch ein Mensch. Er stand zu seinem Spitznamen aus fester Überzeugung. Das machte ihn außergewöhnlich beliebt.
Der Warnruf „Omu kommt!“ eilte ihm trotzdem manchmal durch die Flure des Lyceums voraus. Es war „seine“ Schule, ihre Geschicke lenkte er jahrzehntelang, mal als stellvertretender, mal als vollzeitbeschäftigter Direktor. Und er war ein guter Lotse. Wie durch Geisterhand verschwanden nach dem Alarmruf der schmierestehenden Bengel die undisziplinierten Pezevenghi in ihren Klassen und setzten sich brav in ihren Bänken. Er konnte also, wenn´s sein musste, auch gut seine Fittiche … in die Banken weisen.
Die Nacht des verstümmelten Diktatorenportraits
Nicht immer waren die Schüler harmlos. Eines Tages hatten sie die Augen des allgegenwärtigen Conducătors´ auf seinem überdimensionalen Portrait, das über die Tür der Cancelarie hing, ausgestochen. Auf seinem abendlichen Rundgang entdeckte Omu als Erster und vorerst Einziger das Unheil. Nachdenklich stopfte er seinen kiloschweren Schlüsselbund in seine ledernden Servieta hinein und schleppte sich unentschlossen nach Hause (einen Hartkoffer, die sogenannte Geantă Diplomat, wollte er nie haben, der war mehr etwas für Wichtigtuer).
Dass das Staatsoberhaupt über die Cancelarie-Tür so… (aus-)sichtlos hing, gefiel ihm jedenfalls gar nicht den des Öfteren hatte er den Besuch eines ernstblickenden Herrengespanns empfangen, das ihn für seine viel zu oft nichtparteigetreuen Worte ermahnt hatte. Einmal hatten sie ihn sogar etwas unsanft angefasst, nachdem er zugeben musste, dass er im Unterricht eine Information über ein Fußballspiel durchgegeben hatte, welches am Vorabend im verbotenen Radiosender Europa Liberă verkündigt wurde. Die unerwartete Geschichte mit dem verunstaltenden Portrait, hätte womöglich politisch uminterpretiert werden können und das Fass zum Überlaufen bringen. Es wäre besser gewesen, wenn er es schaffte, das Problem im Keim zu ersticken, noch bevor er an die besagten Herren verpfiffen werden konnte. Er wusste auch schon von wem, es war dieser aufdringliche Lehrer, der ihm wie ein Hündchen hinterherlief und ihm alles nachplapperte… Aber was konnte er tun?
In der besagten Nacht des verstummelten Diktatorengemäldes geisterte eine dunkle Gestalt im schwachen Licht einer Taschenlampe durchs Schulgebäude. Mit einem Taschenmesser in der Hand machte sie sich um die Bilder zu schaffen. Am Tag darauf, als Alle verwundert nach oben blickten, staunten sie nicht schlecht: jemand hatte in den Portraits ALLER Helden der Nation, die entlang des langen Flurs hingen, sämtliche Augen ausgestochen. Der Täter war gründlich gewesen: nicht einmal die alten Römer und Daker hatte er verschont!
Am lautesten schimpfte der Direktor über die unglaubliche Frechheit der Bagabonți… Dann wurden neue Bilder bestellt und die Gelegenheit war schnell vergessen. Sie hatte ja keinen politischen Bezug.
Doch nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen, machten ihm manchmal Probleme. Ich rede da nicht vom alltäglichen Schlichten der Querelen zwischen den ambitionierten Lehrern, das war wohl eine der leichtesten Übungen des Chefs. Er war nämlich ein guter Schlichter, sogar eine Ausbildung zum Fußballtrainer hatte er absolviert.
Der verschwundene Schulstempel
Als toleranter und gutgläubiger Mensch hielt er es jedoch, zum Beispiel, nicht für nötig, den Schulstempel, mit dem die offiziellen Dokumente, Zeugnisse und Abschlussdiplomen versehen wurden, unter Verschluss zu halten. Dieser lag ganz einfach in einer Schublade, in seinem Büro. Die Sekretärin bewachte ja ohnehin den Eingang.
Doch eines Tages verschwand ausgerechnet die Sekretärin! Na ja, groß war die Aufregung nicht, schließlich war sie nicht die erste Sächsin, die ohne Ankündigung ins Ausland geflohen war. Aber auf unerklärlicher Weise war seit ihrer Ausreise auch der Stempel verschwunden. Das konnte sich Herr Direktor gar nicht erklären! Vorsichtshalber verriet er das niemanden, außer seiner Frau, natürlich.
Ein paar Tage lang ging es ihm gar nicht gut. Er konnte nicht mehr schlafen. Der Gedanke an die Mahnung der erwähnten zwei Herren, die ihm neulich mit dem Rausschmiss seiner Tochter aus der Hochschule in Klausenburg gedroht hatten, ließ ihn nicht mehr los. Dazu gesellten sich die besorgten Blicke seiner Frau, die vorsichtshalber für ihn eine Tasche mit dem Nötigsten, für den Fall einer Untersuchungshaft, zusammengepackt hatte…
Es kam wie erwartet: ein paar Tage später, inmitten einer finsteren Nacht, schlug jemand heftig mit der Faust gegen das scheppernde Eingangstor. Omu umarmte seine Frau, zog sich warm an und ging nach draußen. Als er das Tor öffnete, sah er eine vermummte Gestalt, die ihm ein kleines, zusammengeschnürtes Päckchen überreichte. Ihm war als hätte der Unbekannte ein paar Worte in gebrochenem Rumänisch gesagt, etwas was sinngemäß nach einer Entschuldigung klang. Man hätte es versäumt, so auf der Schnelle, die Schulzeugnisse für den Fluchtvorgang zusammenzusuchen, und habe es später in aller Ruhe nachgeholt.
„Heilige Maria!“- erschrak der Direktor und blieb wie versteinert stehen. Er konnte ja schlecht mitten in der Nacht jubeln. Gefeiert wurde also nur mit seiner Frau und dem allgegenwärtigen, fröhlich wedelnden Hund.
So verging noch ein Schuljahr und, als erneut Wahlen für den Schulleiterposten aufgerufen wurden, wurde „Omu“ wiedergewählt. Es war die am schnellsten wachsende Schule im ganzen Kreis Hermannstadt. Dafür musste dringend ein neues Gebäude entstehen. Das wurde dann auch gebaut, natürlich unter der Leitung des Herrn Direktors.
Hier noch eine kurze zusätzliche Bemerkung:
Auch die Schule in seinem Geburtsort, Ighisul Vechi, nahe Agneteln, wurde unter seiner Leitung gebaut. Dort war er am Anfang seiner Karriere Direktor, wahrscheinlich der blutjüngste in der ganzen Regiunea Stalin, bzw. Plasa Brasov, wie es damals wohl geheißen haben soll. Seine sehr guten Abschlussnoten am Lehrergymnasium berechtigten ihn auf einen Lehrerplatz in Hermannstadt, aber er wollte unbedingt ins finstere Hinterland arbeiten, um den Bauern das Lesen und das Schreiben beizubringen (die berühmte Alfabetizarea la Sate). Also nahm er einen Posten in der Nähe seines Heimatortes, im Hartbachtal. Heute befindet sich in der von ihm gebauten Schule, in seinem verwaisten Heimatort, ein Altersheim. Kinder gibt es dort noch kaum, dafür aber viele alte Menschen. Daher hat man das Gebäude zweckumwandelt und daraus ein Altenheim gemacht…
Und ja, ein angepasster Ja-Sager war er auch damals, als junger Mann, nicht. Ein Jahr lang musste er bei seiner Mutter sitzenbleiben, entlassen aus dem Schulwesen, aus disziplinären Gründen. Er hatte es nämlich absichtlich versäumt, beim Empfang eines hochrangigen Parteimitglieds, das Aushängeschild „Herzlich willkommen geliebter Genosse“ über die Eingangstür der Schule zu spannen…
Seine Karriere in führender Position in Talmesch setzte sich weiter fort, obwohl er nicht unbedingt darauf erpicht war. Oder vielleicht eben deswegen… Jahrelang kämpfte er um eine Erweiterung der Ausbildungsspektrums im Rahmen des Theoretischen Lyceums (Liceul Teoretic). Ihm lag der Forstbetrieb am Herzen, da er selbst Jäger war. Die umgebenden Berge liebte er über alles. 1982 war es dann soweit: zusätzlich zu den Studienrichtungen Textil und Tourismus bildete man in Talmesch ab sofort auch Forsttechniker aus („tehnicieni silvici„). Sein stärkstes Argument dafür war die Tatsache, dass sich auf dem Gemeindegebiet von Talmesch, als einziger Ort in ganz Rumänien (abgesehen von noch einer Gemeinde aus Moldawien) nicht ein, nicht zwei, sondern gleich drei Forstbezirke befanden!
Ja, er konnte gut überzeugen und war ein hervorragender Redner. Trotz seiner recht kritischen Einstellung zur Partei, wurde er immer wieder aufgefordert, auf den sonst so langweiligen Mammut-Konferenzen der Lehrer und Schulrektoren des Kreises Hermannstadt eine Rede zu halten. Seine tröstlichen Worte waren auch in alltäglicheren Belangen geschätzt, wie zum Beispiel auf Begräbnissen lokaler Persönlichkeiten, die er alle gekannt hatte (eine Aufgabe, um die sich bekanntlich niemand vordrängt…)
Natürlich gehörte er selbst zu den bekanntesten lokalen Persönlichkeiten. Auf Kulturveranstaltungen war seine Anwesenheit selbstverständlich. Davon zeugt auch das „Abo auf Ewigkeiten“, inklusive Freizutritt im Clubul Firul Roșu, auf dessen Bühne und Leinwand zahlreiche Darbietungen, Konzerte, Theaterstücke und sonstige gut besuchte, landesweit bekannte Truppen oder Filme zu sehen waren. Natürlich fanden dort auch unsere jährlichen Schulfestivals statt, samt unvermeidlichem Zittern und Bibbern, vor lauter Aufregung, bei so einem zahlreichen Publikum. Diese kleine „Ewige Pappe“ hat die Zeit überstanden. Unser geliebtes Klubhaus, in dem uns Herr Bozoșan mit Bollywoodfilmen und Magiershows verzauberte, hat sich hingegen nicht gehalten.
Im ganzen Kreis Hermannstadt gab es kaum eine Schule, die so vieles unter einem Dach vereinte. In den Siebzigern und Achtzigern war das talmescher Theoretische Lyceum die Schulinstitution mit der größten Anzahl an Schüler im gesamten Verwaltungskreis! Dazu zählte man auch viele Erwachsene im Abendstudium, die alle, laut Befehl von Oben, Abitur vorweisen mussten. Es gab nicht nur „Seral“ (Abendstudium), sondern auch „Fără Frecvență” (Fernstudium), „Comasat“ (zusammengeführte Klassen) und natürlich „Curs de zi“ (Tagesunterricht).
Die härteste Jahreszeit war immer die um die Abiturprüfungen. Omu leitete die Kommission, anwesend waren aber auch erstklassige Lehrer vom Gheorghe Lazăr Lyzeum, aus Hermannstadt. Die musste man mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln. Für Talmesch war es eine Ehrensache, ihnen die Stirn zu bieten.
Manchmal wurde Mama der Trubel zu viel, dann durfte ich meinen Vater auf den Abschlussfeiern (Banchet de Absolvire) begleiten. Ich vergesse nie die respektvolle Manier, in der man dort behandelt wurde! Als wir eintraten standen Alle Spalier. Dabei sangen sie Gaudeamus Igitur. Das taten die Abiturienten manchmal auch bei uns zu Hause, am Abend vor der Feier. Dann versteckte ich mich hinter der Gardine und hörte ihnen gebannt zu. Sie erinnerten mich an die Sternensänger, die zu Weihnacht vor der Tür sangen. Vor Aufregung konnte ich kaum noch atmen, ich war ja noch ein Kind! Gänsehaut pur! Hand aufs Herz: es war überwältigend.
Versuche von Vorteilnahme wies mein Vater immer entschlossen zurück. Das konnte er mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl partout nicht vereinbaren, deswegen nahm er niemals Geld für irgendwelche schulischen Beurteilungen. Auf der anderen Seite war er ein großer Anhänger der „Tue-Gutes-Philosophie“. Diese zwei Überzeugungen kamen sich manchmal in die Quere. Er löste das Problem auf seiner Weise, indem er ALLE Fünfe geradestehen ließ, und das im wahrsten Sinne des Wortes (5 war damals wie heute die Mindestnote, zum Bestehen der Prüfungen).
Der Druck und die Verlockung der Korruption war trotzdem sehr hoch. Viele Lehrer betrachteten das Geldnehmen als Kavaliersdelikt, frei nach dem Motto „alle tun´s sowieso“. Und wo soll man die Grenze machen? Ein kleiner Geldumschlag war doch unscheinbarer als die üblichen Vasen oder Schalen, die man zum Muttertag oder als Abschlussgeschenk aus der Klassenkasse fondul clasei kaufte! Oder nicht?
Papa gingen die Versuche, ihn in seinen Entscheidungen zu beeinflussen, schwer auf die Nerven. Er betonte immer wieder, dass er niemals Geld für bestandene Prüfungen genommen hat (Andere taten das schon). Viele Studierende, vor allem die berufstätigen Erwachsenen, dachten, es reiche wenn sie einmal im Jahr vorbeischauten, um ihr Diplom abzuholen. Einfach so, ohne Präsenzunterricht und ohne Prüfung!! „Solls ja geben“, hieß´ es dann, in flüsterndem Unterton… Das brachte meinen Vater auf die Palme. Manche gesetzte achtete er sehr akribisch. Er wollte nicht erpressbar sein, Freiheit war seine Devise. Schmiere hat mein Vater also nie erlaubt, wenngleich er immerhin als milde gestimmter Kommissionsvorsitzender bekannt war, der auch mal ein Auge zudrückte.
Bei der eigenen Familie schlug das genau ins Gegenteil. Nicht nur dass er nicht erlaubte, dass meine Mutter als Lehrerin in seinem Lyceum tätig wäre – sie mochte sowieso lieber ihre deutschen Schüler, auf der Școala Nr. 1 – für meine Schwester und für mich war er noch entschlossener. Wir mussten möglichst besser als unsere Kommilitonen sein, damit uns ja Nichts nachgesagt werden konnte.
Meine Schwester machte sogar die kleine Abiturprüfung in Talmesch (Zehnte-Klasse-Abschluss), bevor sie nach Hermannstadt zum Georghe Lazăr Lyzeum wechselte. Dadurch bewies mein Vater, dass auch das hiesige Lyceum mit den berühmteren Institutionen aus der Kreishauptstadt durchaus mithalten konnte.. Meiner Schwester hat es nicht geschadet. Sie ist eine hervorragende Mathematiklehrerin geworden und hat auch in Deutschland weiter viel Erfolg. Mich hat Herr Dangl, bester Freund meiner Eltern, im Französischunterricht nach allen Regeln der Kunst gequält. Obwohl ich, meiner Meinung nach, alles perfekt konnte, gab er mir nie die Höchstnote. Er meinte, die würde nicht einmal er selbst verdienen, sie sei nur für die Götter gedacht. Seinen strengen Methoden verdanke ich meine soliden Französischkenntnisse.
VE-SE-LE: via, stupina, livada
Auf jeden Fall setzte meinem Vater die viele Arbeit auch langsam zu. Vor lauter Aufregung hat er sich einmal eine Surmenage eingefangen (heute würde man dazu Burnout sagen). Er wurde zur Erholung für zwei Wochen nach Sinaia auf einem Sanatorium geschickt. Dort stellte man fest, dass er eine verschleppte chronische Hepatitis-Erkrankung hatte. Er kam gestärkt zurück und ab sofort aß er liebend gerne brânză de vaci (früher hatte er Frischkäse zutiefst gehasst). Glockenklingeln und Kinderlärm versetzte ihn hingegen weiterhin, bis zu seinem Ableben, in Panik.
Nach der Wende ließ er sich früh berenten und hielt tapfer den Bitten stand, die ihm die Lokalpolitik schmackhaft zu machen versuchten. Lediglich als unabhängiger Berater kam er noch im Rathaus zum Einsatz, Parteien blieben ihm für immer suspekt…
Einiges von dem, was mein Vater im Talmescher Liceul Teoretic angefangen hat wurde weitergeführt. Das erfüllte ihn mit Stolz und Freude. Heute heißt das ehemalige Lyceum Grupul Școlar Economic “Johannes Lebel”. Dort unterrichten 25 Lehrer unterrichten in etwa 25 Klassen circa 600 Schüler in den Fachrichtungen Textil-, Gastronomie- und Forsttechnik.
Mein Vater hingegen kaufte sich zwei Hektar Obstgarten von den ausgewanderten Sachsen und genoss die Natur in Podu Olt. „VeSeLe“, Abkürzung von „vie, stupina, livada“, also V.S.L. nannte er sein Reich und pries es mehr als das ganze Land Bayern an. Es war sein verdientes Paradies.
Er starb vor zwei Jahren, mit 86, gut umsorgt und bei klarem Verstand, aber leider körperlich stark geschwächt. Im Kopf blieb er klar und war bis zum letzten Augenblick ein geschätzter Gesprächspartner. Er war ein geborener Optimist, vielleicht auch ein wenig Idealist. Lehrer war nicht nur sein Beruf, es war seine Berufung.
Dank Johann Lebel, Namensgeber des heutigen Collegiums von Talmesch, weiß man, dass Talmesch auf eine unglaublich alte Tradition als Schulstadt zurückblickt. Laut Schriften die er uns, als Pfarrer von Talmesch und prägende Figur der Evangelischen Kirche Siebenbürgens hinterließ, wurde unser Ort schon im 16. Jahrhundert für die Funktion des Hauptsitzes der Sachsenuniversität in Erwägung gezogen. Leider verlor unsere Heimatstadt damals das Rennen. Zu sehr hatte sie unter den wiederholten Überfällen der Türken gelitten. Die exponierte Lage am Karpatenpass wurde ihr zum Verhängnis, wieder einmal stand sie niedergebrannt und geschwächt da.
Aber die Liebe und der Respekt für das Studium und die Schule sind uns erhalten geblieben. Das habe ich schon als kleines Kind deutlich gespürt, noch bevor ich den aufrechten Gang lernte, als mir meine geliebte alte Berthatante (Frau Gähl), ehemalige Direktorin der Talmescher deutschen Schule, behutsam die ersten Worte auf Sächsisch beibrachte. Doch darüber reden wir vielleicht ein anderes Mal…
erschienen in der Hermannstädter Zeitung Nr. 2719, vom 23. April 2021