Winternachklang
Es war einer dieser Heiligabende um das Jahr 2000, den wir als Gäste einer distinguierten englischen Familie an der Costa Blanca begannen. Die Eltern einer berühmten englischen Opernsängerin luden gewöhnlich einige Freunde und Bekannte ein, um gemeinsam den Heiligabend zu genießen. Allerdings war für alle klar, dass die Veranstaltung zeitig zu Ende gehen sollte, um anschließend eine gemütliche Weihnachtsfeier im Kreise unserer eigenen Familien zu erlauben.
Gern gaben mein Mann und ich uns auch diesmal wieder die Ehre und nutzten die Gelegenheit, den Puls der Nachbarschaft zu fühlen und, nebenbei, die festliche Stimmung zu genießen, denn die Gäste waren immer wieder erstaunlich unterschiedlich und sehr speziell. Am interessantesten wirkte die Gastgeberfamilie, deren Mitglieder aus allen Windrichtungen herbeieilten und uns jedes Mal durch ihre weltoffene Art beeindruckten. Nicht weil sie auffallen wollten waren sie so schrecklich interessant, sondern eher weil sie sich stets bemühten, unauffällig zu wirken…
Die Opernsängerin sah überraschend jung und zerbrechlich aus und hielt sich vom allgemeinen Trubel fern. Da es üblich war, dass Familienmitglieder die Fingerfood-Tabletts aus der Küche trugen und den Gästen anboten, war es durchaus möglich, von ihr persönlich etwas entgegenzunehmen, ohne es überhaupt zu merken!
Ihre Brüder und Schwestern waren hingegen viel auffälliger. Oft befanden sie sich in Begleitung ihrer Partner und Freunde, von denen ein gewisses Flair und eine wohlstudierte Gelassenheit ausging. Unter diesem Mantel entzückender Toleranz trafen verschiedene Rassen, Alter und Orientierungen (auch sexuelle) friedlich aufeinander.
Hell beleuchtet, mit üppigen Girlanden und Weihnachtskugeln geschmückt, lud die geräumige Villa zum Verweilen ein. Trotz ihrer beachtlichen Größe wirkte die renovierte Finca warm und kuschelig. Auf der Seite, die sich zum Meer hin öffnete, von der halbkreisförmigen Terrasse mit großem Pool aus, hatte man einen herrlichen Blick über die ganze Umgebung. Das Anwesen sah so aus, als wäre es absichtlich als Kulisse für solche Feiern entworfen worden.
Mein Hauptproblem bestand auch diesmal darin, die Gäste voneinander zu unterscheiden und mir ihre Namen einzuprägen. Diejenigen, die in den unauffälligsten Kleidern steckten, waren oft am berühmtesten. Andere, die in futuristisch anmutenden Aufmachungen herumspazierten, hatten meistens nicht viel auf der Weltbühne zu sagen. Doch im Laufe der Jahre hatte ich die Lektion des englischen Understatements gelernt: ich urteilte nicht mehr nach Äußerlichkeiten.
Die Mutter der Sopranistin, Seele und Stütze des ganzen Familienunternehmens, war das beste Beispiel dafür. So klein und zierlich wie sie wirkte, so resolut und zäh konnte sie sein. Mit Fingerspitzengefühl kümmerte sie sich um jeden Gast. Sie besaß die seltene Gabe, jedem das Gefühl zu geben, er mache alles richtig, selbst wenn er die größten Dummheiten beging.
Wir überreichten ihr unser typisch deutsches Geschenk, eine hohe Erzgebirge-Weihnachtsmühle, natürlich in Handarbeit angefertigt. Geradezu entzückt hörte sie sich unsere Erklärungen und Gebrauchsanweisungen an und bedankte sich mehrfach. Dann führte sie uns in die Veranda, wo ihr Mann, Lou, sich als Barkeeper betätigte.
Er unterhielt sich gerade mit einem Typen der die Imitation eines Rentiergeweihs auf dem Kopf trug. Dessen Spitzen blinkten im Sekundentakt, dank zweier kleiner LED-Leuchten. Der Gastgeber unterbrach höflich das Gespräch und kam uns mit zwei gefüllten Champagnergläsern entgegen.
Mich begrüßte er in fast akzentfreiem Rumänisch, was mich nicht weiter überraschte, denn mir war bekannt, dass er in jungen Jahren in meinem Heimatland als Ingenieur unterwegs gewesen war. Ich tat trotzdem so als ob ich ihn nicht kannte und machte damit eine Anspielung auf unsere erste Begegnung (damals hatte er sich mit vollem Namen präsentiert – Lou Barneyhew – worauf ich ihn irritiert angegiftet hatte: „Lu barni who??“).
Anschließend eröffnete er ein Gespräch über meine Heimat, Rumänien. Bei solchen Themen bin ich äußerst vorsichtig, denn nicht all meine Landsleute haben einen guten Ruf. Doch nachdem er uns klar machte, das er nur gute Erinnerungen an mein Land hatte, lockerten sich unsere Zungen. Ich hörte manch überraschende Dinge, einige davon aus Zeiten zu denen ich noch gar nicht geboren war!
Da die Gäste zielstrebig die Getränke-Anlaufstelle anpeilten, ging mein Mann mit mir nach draußen und wir gesellten uns zu einer Gruppe junger Leute, die das rauchten, was ihnen gefiel.
Spanischer Winter
Der milde spanische Winter verwöhnte uns mit Temperaturen um die 18 Grad Celsius und der Himmel leuchtete hübsch, von Sternen fast überladen.
Die Youngster unterhielten sich über das Showbiz und ließen in ihrem Gespräch verdammt viele berühmte Namen fallen. Um ja nicht mit meinem Unwissen aufzufallen lenkte ich meinen Blick auf den Garten. Als ich das Lichtlein hinter dem Tennisplatz entdeckte deutete ich dies als Einladung. Mir war nämlich aus früheren Besuchen bekannt, dass sich der Opa der Familie gern und oft dort aufhielt, um seinen Hobbys zu frönen.
Meine Vermutung erwies sich als richtig: der alte Herr saß auf seinem Sofa und sah sich ein Tennisspiel mit seiner Lieblingsathletin, Steffi Graf an.
„Komm rein, mein deutsches Mädchen”, sagte er zu mir und bot mir einen Platz auf dem Sessel neben ihm an.
Die angeheiratete deutsche Fraktion meines Wesens fühlte sich berechtigt, dem nicht zu widersprechen. In der Hoffnung interessante Erinnerungen aus dem lustigen Mann herauslocken setzte ich mich dazu. Leider war er an diesem Abend zu sehr auf Tennis fixiert. Ich hatte Glück, dass ich mich als Selbstspielende ein bisschen auskannte, und leistete ihm eine Zeit lang Gesellschaft, doch als sich der Inhalt meines Glases dem Ende zuneigte ging ich langsam davon.
Auf meinem Weg zurück bot mir ein fast fliegender Holländer frisch gebackene Plätzchen auf einem Tablett an. Er trug eine Weihnachtsmannmütze mit ferngesteuertem Zipfel, der sich rhythmisch kerzengerade nach oben aufrichtete. Ich fand das lustig und brachte meine Verwunderung zum Ausdruck, vergaß aber nicht, mich fleißig mit Keksen zu bedienen. Die waren sehr, sehr gut!
Doch lange Rede, kurzer Sinn. Die Party lief nach ähnlichem Muster weiter, bis irgendwann auch der letzte Gast weggegangen war. Außer uns. Die Familie versammelte sich im Salon, um das Klavier. Wir wurden irgendwie dazu genommen und durften ein paar wunderschön selbstgesungene Weihnachtslieder hören.
Etwas angeheitert von den Cocktails, die er sich selbst gemischt hatte, wandte sich Lou an mich und erkundigte sich ob ich rumänische Weihnachtslieder kannte. Natürlich besaß ich ein beträchtliches Repertoire auf dem Gebiet! Nachdem ich meinem Mann und unserer Gastgeberin einen prüfenden Blick zuwarf, legte ich los und sang „O welch wunderbare Nachricht“.
Ob meine Stimme aufgrund des Sektverzehrs und durch den Gebrauch vieler Fremdsprachen an jenen Abend besonders gut klang, kann ich jetzt nicht mehr beurteilen. Ich neige eher dazu, eine leichte Verzerrung in meinem Selbsturteilsvermögen, aus eben dem vorhin erwähnten Grund, zu vermuten. Eins steht aber fest: ich kam mir geradezu wie eine Nachtigall vor!
Der anschließende Beifall schien mir recht zu geben. Schon träumte ich von einer Karriere als zufällig entdecktes Talent und sah meinen Stern auf dem Firmament der Weltmusik, an der Seite des leuchtenden Sternes der berühmten englischen Sopranistin, sich in senkrechtem Aufstieg befindend!
Also fasste ich meinen Mut zusammen und attackierte zwei weitere Titel, „Herr, Du hoch und heilig” und „Aufgehender Stern” während ich mein Gedächtnis krampfhaft nach weiteren Liedern durchforschte.
Doch nach der dritten Gesangprobe zog mich plötzlich mein Mann am Ärmel und sagte etwas wie „Schatz, ich glaube wir sind etwas müde”. Dann lotste er mich, als erfahrener Pilot, zur Garderobe im Flur und hielt mir den Mantel bereit.
Im Nu befanden wir uns draußen und verabschiedeten uns von den freundlich lächelnden Gastgebern. Im letzten Moment überreichte mir die englische Dame noch ein Päckchen mit Gebäck.
„Weil sie dir so gut geschmeckt haben”, fügte sie noch hinzu.
Bis heute weiß ich nicht, ob mich unsere englischen Freunde aus Überzeugung oder aus Höflichkeit zum Singen ermutigt haben. Eine Sache ist mir aber gewiss: am Tag darauf hatte ich ziemlich hartnäckige Kopfschmerzen…
Gabriela Căluţiu Sonnenberg
Spanien, Januar 2018
Prolog:
Zwei Jahre später starb der ehrwürdige Großvater. Da seine Enkelin nicht an der Andacht in Spanien teilnehmen konnte, lies de sie durch ihre zauberhafte Stimme vertreten. „Time to say goodbye” bewirkte nicht nur dass die Wände unserer kleinen Urbanisationskapelle, sondern auch unsere Herzen wie verrückt bebten.
Irgendwann zogen sich auch ihre Eltern von der Costa Blanca in die Heimat zurück. Sie nahmen sich ein Haus auf einer kleinen Insel, im Ärmelkanal. Natürlich ist auch dort das Klima milder als in England, aber ich wette, so spontane Gäste wie uns kriegen sie nicht mehr.