Das zerschlagene Ei
(Reportage)
Neulich stolperte ich über folgende Behauptung, die mich im Anschluss eine zeitlang beschäftigte: „Wenn das Ei durch äußerliche Gewalt zerschlagen wird, bedeutet es Tod. Wenn es aber von innen aufgebrochen wird, beginnt ein neues Leben. Veränderungen, die von innen nach außen vorangetrieben werden, wirken also tiefer.“
Dann fiel mir Katalonien ein. Schließlich wird das „katalonische Ei“ gerade eben vor unseren Augen von innen heraus gesprengt. Die Frage ist, welche Art von Wesen daraus geboren wird.
Meine Gedanken erreichten das Dalí-Museum im katalanischen Figueres, dessen Dach von überdimensionalen Eiern gesäumt ist. Diese vermitteln das Gefühl von Ungleichgewicht, so, als ob sie kurz vorm Kippen wären.
Ja, die Situation in Katalonien ist bedrohlich und dramatisch. Sich darüber zu äußern ist fast genauso riskant, denn täglich begrüßen uns die Nachrichten mit weiteren, neuen Entwicklungen.
Es geht uns ein bisschen wie dem Rabbi, der dem Kläger zuhört, und ihm Recht gibt, dem Beschuldigten aber auch. Und als ihn am Ende der Schlichter ermahnt, sich für nur eine der zwei verfeindeten Parteien zu entscheiden, erkennt er, dass auch diese Recht hat…
Als Zeitzeuge, der den gewaltigen Sturz einer Diktatur in Rumänien mitgemacht hat, reagiere ich eher emotional als sachlich auf die Fernsehbilder aus Barcelona. Auch wenn es sich hierbei keineswegs um eine unterdrückte, sondern eher um eine „bloß unzufriedene“ Masse handelt, trifft mich ihre Wucht und der negative Aufprall genauso heftig. Es bedarf eines enormen Fingerspitzengefühls, um diese geballte Energie vor dem Bersten zu bewahren und sie dann, friedlich und langsam, in Fortschritt zu verwandeln. Ich schaue mich um und sehe niemanden, der dazu fähig wäre.
Wie viel Zeit haben wir noch? Die Uhrzeiger stehen kurz vor Stunde Null.
Ich weiß noch wie die Massen damals, 1989, in der rumänischen Hauptstadt Bukarest auf diejenigen reagierten, die versuchten die verschiedenen Parteien zum Verhandeln zu animieren. Sie wurden ausgebuht und weggejagt. Die „Aufheizer“ hingegen, von denen man später, als der Aufbau begann, nie wieder etwas hörte, waren die Helden der Stunde.
Man sollte meinen, Erfahrungen lassen uns wachsen und weiser werden, doch ich bezweifele dass man beim zweiten Mal auch nur irgendetwas anders machen kann, denn die Kräfte, die uns hin und her reißen, haben leider eine doppelte Wirkung:
Auf der einen Seite gaukeln sie uns vor, wir seien durch den Zusammenhalt der Gruppe ungemein stark, auf der anderen Seite entmachten sie uns aber völlig und rauben uns manchmal sogar den Verstand und die Entscheidung über unser eigenes Handeln. Es ist die Gruppe, die handelt, nicht wir!
Zurück zum kaputtgeschlagenen Ei. Natürlich betrifft diese Entwicklung nicht nur das Ei, sondern auch das Umfeld. Jeden von uns geht die Sache etwas an, die Frage ist nur in wieweit. Noch befinden wir uns in der Phase des nicht ganz so hellen Polizisten, der, nachdem er den Tatort inspiziert hat, mit Besorgnis feststellt, dass die Lage ernst sei, denn schließlich ist das Fensterglas von beiden Seiten kaputt!
So auch die Eierschale, die dünne, die sich bisher als Trennwand zwischen „von innen wirkenden Zusammenhaltkräften“ und „von außen sanft ausgeübtem Druck“ bewährt hat. Seine elliptische Form hat das „katalanische Ei“ nun mal für immer verloren. Sie war weit entfernt von der Perfektion einer Kugel, aber sie war stabil.
Was folgt, kann man nur noch erahnen. Die Oberflächenspannung ist futsch:
Hoch lebe die … frische Luft?
Ich zitiere: „Die katalanische Familie ist paranoid, das heißt, sie fantasiert ständig und ist zugleich systematisch, und ihr Sinn für Realität fügt sich schließlich in die Erfordernisse dieses Willens nach gelenktem Wahnsinn. Nichts vermag unsere Wünsche aufzuhalten, der Realitätssinn ist lediglich dazu da ihnen mehr Nachdruck zu verleihen. „(Zitat Ende)
Das sagte einmal ein Herr der Eier, der brennenden Giraffen und der Uhren, die zum „Davon schmelzen“ neigten. Genauso wie unsere Zeit, die uns durch die Finger rinnt. Natürlich hatte Salvador Dalí recht. Aber auch ein Genie kann sich manchmal irren, sogar wenn es ein katalanisches ist.