Antwort weiß allein der Wind
(Gedanken zum Jahreswechsel)
Ende dieses Jahres fiel die überraschende Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Bob Dylan fast zeitgleich mit dem eher unerwarteten Wahlsieg des Kandidaten Donald Trump in den USA zusammen. Beide Ereignisse weichen von der üblichen Vorgehensweise ab und lassen uns erahnen, dass sich die Welt momentan auf der Suche nach unkonventionellen Lösungen befindet: Während Literaturpreise nicht mehr an Literaten vergeben werden, legt man Staatsangelegenheiten nicht mehr in die Hände von Politikern, sondern in die von Geschäftsleuten, in der stillen Hoffnung, dass diese uns besser „verwalten“ können. Auch die Kriege sind nicht mehr unbedingt sichtbar; sie werden auf Ebenen geführt, die dem gemeinen Volk nicht mehr zugänglich sind. Und ja, sogar das Wichtigste, unser Geld, wird un(be)greifbar seitdem man überlegt, es durch „Bitcoins“ und später durch implantierte Chips zu ersetzen.
Getreu dem Dylan´schen Motto „Die Antwort mein Freund, weiß ganz allein der Wind“ bleibt ungewiss was uns all das in der Zukunft bringen wird, doch die Ursachen dieses Umbruchs sind sichtbar und sie wurzeln wieder einmal in der Vergangenheit. Meine eigene, vor gar nicht langer Zeit, während eines Urlaubs in Kalifornien gesammelte Erfahrung liefert mir einige Schlüssel und mögliche Gründe zum Umdenken.
Es geschah im Yosemite Nationalpark, an diesem einmaligen, mitunter schönsten Ort unseres Planeten, der gleichzeitig auch eine äußerst wichtige Symbolfunktion im stolzen nordamerikanischen Selbstbewusstsein einnimmt. Der Film, der dort im Besucherzentrum vorgeführt wird zeigt nicht nur die beeindruckende Schönheit dieses einmaligen Fleckens Erde, sondern auch die Einstellung der Gründer, die, um ein Zeichen zu setzen und um eine Botschaft für die Zukunft zu hinterlassen, es schafften ihn offiziell zu einem „schützenswerten Lebensraum“ zu erklären. Somit liefert er ein Beispiel für die amerikanische Mentalität und deutet auf einige Unterschiede zwischen der europäischen und der amerikanischen Sichtweise zum Thema „Was ist uns eigentlich wichtig?“ hin. Falls diese klitzekleinen Unterschiede es irgendwann schaffen den Ozean zu überqueren – und das werden sie mit Sicherheit, wie bei fast Allem was in Amerika entsteht – dann sollten wir vielleicht im Voraus auch darauf vorbereitet sein und wissen was auf uns zukommt.
Dass sich die mächtigste Nation der Welt als Schützer aller kostbaren Dinge versteht ist allgemein bekannt. Fast jeder im Land betrachtet dies als eine Selbstverständlichkeit. Bewusst wähle ich das Wort „kostbar“ anstatt „wertvoll“ weil mich die Art wie man in den USA alles in Geld zu quantifizieren versucht stark beeindruckt hat. Sie spiegelt den Wunsch nach einer einheitlichen, klaren Welt, die sich nach nicht verfälschbaren Werten richtet, wo man genau weiß was man hat, egal ob es materieller oder nichtmaterieller Natur ist. Kurz gesagt: Transparenz!
Den Amerikanern ist die Pflege der einheimischen Natur genauso wichtig wie das Weitergeben der ideellen Werte ihrer Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, die fest an das Gute glaubt, als Grundlage des Glücks und des Wohlstands jedes einzelnen Menschen.
Auch ich stimme dem behutsamen Umgang mit den Ressourcen zu, aber seine weit hergeholte Begründung im Falle des Yosemite-Parks macht mich stutzig. Auf den ersten Blick klingt sie verwirrend, als ob man Äpfel mit Birnen verwechselt, denn die Natur wird als Mittel zum Erreichen eines menschlichen Zwecks betrachtet und verwendet. Der Park soll nicht mehr und nicht weniger als dem Streben nach Glück dienen! Wer hätte das gedacht?!
Das fest in der amerikanischen Verfassung verankerte „Streben nach Glück“ („pursuit of happiness“) ist ein grundsätzliches Menschenrecht und wird in diesem Film sehr oft erwähnt, aber die Tatsache, dass ausgerechnet dieses Grundrecht den Anstoß zur Schaffung des Yosemite-Parks gab, erscheint dem nichteingeweihten Europäer etwas merkwürdig.
Auf den zweiten Blick überrascht die Tatsache dass die Natur als Mittel zum Zweck verstanden wird nur noch wenige, denn die Selbstbestimmung und der Gedanke der Machbarkeit aus eigenem Antrieb ist Teil des US-Alltagslebens, seit eh und jäh. Man erkennt ihn fast überall unter der Oberfläche.
Leider gelingt es dem US-Normalbürger nur selten, das angestrebte Glück zu erreichen. Demzufolge fühlt er sich oft von dieser mächtigen Aufgabe des Glücklichseins überfordert. Der Spieß dreht sich um und flößt ihm sogar noch Schuldgefühle ein, wenn er sich als Versager sieht, der die Norm nicht erfüllt. ”An unhealty trend in the present-day culture of the United States” (eine ungesunde Tendenz der gegenwärtigen Kultur der USA) nannte ein in Amerika eingebürgerter Wiener Psychoanalytiker (Viktor E. Frankl) die Verdoppelung der Last des Unglücks durch das Addieren des Schuldgefühlgewichts, das vom Unglücklichsein verursacht wird. Klingt kompliziert? Keineswegs!
In Europa wiederum betrachtet man das Streben nach Glück eher als Privatangelegenheit. Es gehört sich nicht, sich dabei einer institutionalisierten Form anzuschließen, geschweige denn sich das verordnen zu lassen.
Kurz gesagt, mein etwas zu gespitztes Ohr fühlte sich da ein wenig gestört. Wenn es darum geht, Glück zu „produzieren“ oder zu erkaufen – sei es auch nur durch bewusstes „Guttun“ oder „Bravsein“ – habe ich das Gefühl, das die Demut und das Vertrauen abhanden kommt, nachdem das Glück uns findet, und nicht umgekehrt.
Das Problem mit denjenigen Sachen, die nicht unbedingt in Geld ausgedrückt werden können ˗ eines davon ist das Glück – ist, dass man sie, im Gegenteil zu anderen Dingen, nicht horten kann. Jedoch, bedingt durch die Macht der Gewohnheit, sammeln die Bürger der USA weiterhin fleißig ihre vermeintlichen „Glückseinheiten“ indem sie sich gegenseitig mit käuflichen Leistungen wie „Schönheit“, „Gutes Essen“, „Bewegung“, „Gesundheit“, „Wohlstand“, „Urlaub“, „Hilfespenden“ etc. übertrumpfen und das alles unter „Glück“ verbuchen. Findige Unternehmer verdienen damit viel Geld und bieten Lösungen, die die Masse etwas einfältig aussehen lassen: immer mehr Leute haben weiße Zähne, lassen sich die Nasen begradigen, die Frauen tragen ihre Haare lang, glatt und mit Scheitel (Frau entscheidet nur noch ob sie den gerne seitlich oder doch lieber mittig trägt). Alle versuchen sich mit Sport fit zu halten, gehen regelmäßig zum Psychiater, fangen an etwas umweltfreundlichere Autos zu kaufen usw. Man verfügt über die Mittel all das zu machen, aber man vermisst den Sinn (Zitat: ”they have the means, but no meaning”, Viktor E. Frankl, ”Man´s search for meaning”, Beacon Press Editions, Boston, Massachusetts). Um glücklich zu sein braucht man letztendlich einen Grund!
Ausgerechnet am Ende eines jeden Jahres wünscht man sich genau dieses: Glück, doch fälschlicherweise strebt man ein statisches, sorgloses Standbild des Glücks an, befreit von Sorgen, Kummer, Herausforderungen. Rundum bedient und zufrieden sein bedeutet aber nicht Glück, es bedeutet Tod! Glück ist jedoch ein dynamischer Zustand, der sogar ein bisschen Schwere braucht um nicht in sich zusammen zu fallen, genauso wie ein Steinbogen, der durch das Gewicht des obersten Steines stabilisiert wird. Wer weiß, vielleicht haben die US-Bürger ausgerechnet durch die Wahl eines Präsidenten der aus der Reihe tanzt diesen letzten Stein auf ihr Staatskonstrukt gelegt, um seine Festigkeit zu prüfen?
Das Jahr 2017 beginnt mit einer spannenden Phase. Von Langeweile weltweit keine Spur! Eine gute Konjunktur für Glücksjäger! Doch wessen Glück wird bevorzugt? Die Zeichen sind nicht ermutigend: selbst in den USA sinkt die durchschnittliche Lebenserwartung und immer mehr Menschen, die vor gar nicht langer Zeit wenig Geldprobleme hatten, fangen an sich um ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Von der eigenen Arbeit ein zufriedenstellendes Leben zu finanzieren ist nicht mehr so eine Selbstverständlichkeit wie es früher einmal der Fall war. Darüber ist man beunruhigt und man fängt an, an feststehenden Mustern zu rütteln.
Dinge, die einst als Gesprächsthema Tabu waren, fangen an gesellschaftsfähig zu sein. Die Demokratie wird in Frage gestellt, die moralischen Werte angezweifelt; manch helfende Hand wird als Beleidigung empfunden, die Rassen-, Religions- und Geschlechterunterschiede werden wieder thematisiert, die nationalen Grenzen einiger Staaten korrigiert, alte Fehden werden wieder ausgegraben und die Gemüter erhitzen sich viel schneller als früher.
Die Globalisierung beweist sich immer mehr als gescheitertes Experiment. Von Kommunismus und Diktaturen vorgeschädigte Bürger erkennen darin dieselben Tücken, die sie in ihren ungerechten Systemen durchleben mussten. Der Kommunismus entzog den Individuen die persönlichen Rechte, die Globalisierung tendiert dazu, die Völker von der „Bürde“ der Selbstbestimmung zu „befreien“. Als ob man es mit der gleichen Sache zu tun hätte, nur in etwas größerem Maßstab.
Wenn Nationalismus messbar wäre, etwa wie Cholesterin, dann würde man feststellen, dass sich der „schlechte“ Nationalismus (LDL: Brutalität, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit) in Bereiche vorgeschoben hat, die den Gesundheitszustand manch einer Gesellschaft bedroht. Irrtümlicherweise versuchen „Ärzte“ in den Medien Einfluss auf den Gesamtwert des „Nationalismus-Cholesterins“ zu nehmen indem sie das „Gute“ HDL eingrenzen und manchmal in ihrer politischen Korrektheit übertreiben. So kommt es, dass sich mittlerweile immer weniger Menschen trauen ihren normalen Patriotismus zu zeigen, denn daran könnten sich Angehörige anderer Nationen stören. Und so gerät man immer mehr in die Situation, in der die „Operation Werteverminderung“ gelingt, aber der Patient „Volk“ nicht überlebt. Schließlich ist es allgemein bekannt, dass eine angemessene Menge an Cholesterin für das Wohl des Organismus unverzichtbar ist.
Na ja, zum Glück ist es noch nicht soweit. Wir müssen uns keine Sorgen machen, solange wir mitten im Winter, sozusagen im Permafrost der Feiertage feststecken. Da passiert nicht viel auf der politischen Bühne. Die Versuchung zu kritisieren ist groß, aber der in diesem Jahr ausgezeichnete Literatur-Nobelpreisträger mahnt nicht ohne Grund „don´t criticize what you can´t understand“.
Im Augenblick des Jahresrückblickes kann man sich für das Jahr 2017 nur noch eine sanfte Landung wünschen, und kein allzu heftiges Plumpsen in die von Bob Dylan so trefflich vorangekündigten „The times they are a-changin´“.
Spanien, Dezember 2016