Berlin im Sinn
August 2018: 8 Tage Berlin, was für eine Verheißung! Und das nicht nur im Sinne der hochgradigen Temperaturen! Dass die Hauptstadt kocht erfahre ich aus der Juliausgabe meines mitgebrachten Merian-Magazins, das dem Thema Berlin-Gastronomie ein umfangreiches Kulinarikdossier widmet.
„So ein Quatsch“, denke ich. „Zum Essen sind wir nun wirklich nicht hierhergekommen“. Oder vielleicht doch? Berlin isst wirklich gut! Dabei muss es nicht einmal teuer sein. Wenn es preiswert bleiben muss, dann hat man nicht nur die klassische Currywurst, sondern auch den dort erfundenen Döner / Kebab im Angebot. Doch davon rede ich lieber später.
Nach den exquisiten Abendhäppchen meldet sich prompt der Durst. Das Berliner Weiße kommt gut gelegen, hmm, eigentlich geflossen, denn wir nahmen gleich zwei, wegen der Schwierigkeit sich zwischen grün und rot zu entscheiden. Im Traditionsbrauhaus, das dem ehemaligen Treffpunkt der Kalten-Krieg-Agenten, Café Kranzler, genau gegenüberliegt herrscht reges Treiben.
Schon merkwürdig diese Berliner: sie ziehen es vor, ihr Bier aus einem großen Weinkelch, durch einen Strohhalm zu trinken! Schmeckt trotzdem lecker, auch weil es schön kalt ist.
Überraschend kalt ist auch das Wasser, das keine drei Meter von unserem Kneipentisch vor sich hin aus einer Trinkfontäne plätschert. Daneben steht: „Alle reden über meine schlechte Luft. Aber niemand spricht über mein gutes Wasser.“ Stimmt! Spätestens beim Duschen im Hotel merke ich wie gut mir das eiskalte Wasser tut. Nur noch Wien, meine andere Lieblingshauptstadt könnte hierbei mithalten. Die Temperatur bleibt auch nachts stets oberhalb der 30 Grad-Marke und dass bewirkt dass das Berliner Wasser auf Platz 1 in meiner Getränkerangliste rangiert.
Wenngleich die Ost-West-Teilung schon lange Geschichte ist, zieht es jeden von uns instinktiv in die vertraute Richtung. Diejenigen, die vom Osten geprägt wurden, treffen sich am Alexander-Platz(Alex); die Westlichen hingegen tendieren eher zum Ku´damm.
Nahe beim Ku´damm quartieren auch wir uns ein, nördlich, von Hamburg kommend. Entsprechend unseren Erinnerungen suchen wir anschließend vergeblich im Keller des Europa-Centers nach der sich dort befindenden Eislaufbahn. Ein netter Schrank, der vor dem Eingang der Irishbar sein Geld verdient, schaut gütig auf uns runter und spricht: „Das war einmal, vor 30 Jahren, Ihr Gruftis!“. Nun ja, zumindest weiß er noch, dass es mal eine gab…
Würdig nehmen wir diese Niederlage hin und trösten uns mit dem obligatorischen Europa-Zentrum-Eis. Der Italiener ist zwar seit Jahrzehnten wohl der gleiche, doch sein Deutsch klingt immer noch nach Mafia. Sein Eis schmeckt weiter spitzenmäßig. Spitz wird wohl auch die Satire sein soll, die nebenan, bei den „Stachelschweinen“ gerade anfängt. Doch wir entscheiden uns lieber fürs Stöbern im ältesten Vinylplattenladenladen der Stadt. Vertraute Welt.
Plötzlich ertönen draußen völlig andere Geräusche. Es klingt wie ein Kanon, gepaart mit einer fernöstlichen Klangmassage. Kurz darauf merke ich, dass es sich um ein elaboriertes Glockenspielchen handelt.
Die Glocken der Gedächtniskirche, in Berlin auch als „hohler Zahn“ bekannt, wirken auf mich tatsächlich sanft und wehmütig. Ein angenehmer Tagesausklang.
Nicht ganz so sanft wird am Morgen darauf der Weckruf, der uns aus den Betten holt. Der Verursacher des Baulärms, der Punkt 8 Uhr beginnt, befindet sich genau hinterm Hotel. Auch das ist Berlin! Nicht nur am Flughafen wird unendlich lange gebaut. Nein, die komplette Stadt wird umgestaltet! Und so mache ich nebenbei mit meinem ersten Hauptstadtwort Bekanntschaft: Gentrifizierung.
Für mein spanisch-geprägtes Ohr klingt es entfernt nach Zahncreme. Doch geht es hier um etwas anderes: die besorgniserregende, schnelle Umwandlung völlig ruhiger Stadtgegenden in hippe Wohnbezirke, die sich bald keiner mehr leisten kann; das soll es bedeuten. Wegen ihres besonderen Flairs und der zentralen Lage sind die einst etwas verschlafenen „Dörfchen“ wie Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Lichtenberg oder Neukölln heute bei den neuen Stadtbürgern begehrt wie frische Brötchen. Nicht nur unter Westdeutschen, sondern auch bei den New Yorkern oder Madrilenern ist es jetzt IN, sich eine Wohnung in Berlin zu kaufen. Die Baubrache verdient daran ganz gut, doch auch wenn die Gentrifizierung Wohlstand und neues Leben mitbringt, ist man darüber gar nicht entzückt, bei den Alteingesessenen. „Eine Art zeitgenössische Version biblischer Heuschreckenplage“ nennt der Berliner-Schriftsteller Daniel Schreiber dieses Phänomen. Langsam formiert sich der Widerstand. Fortsetzung folgt.
Ich lese dass der Name Neuköllns´ übrigens von der ursprünglichen Ortsbezeichnung abstammt: Cölln. Später wurde diese jedoch nach dem slawischen Wort „ Berlo“, was so gut wie „Sumpf“ heißt, umbenannt.
Also war meine Annahme, dass Berlin etwas mit dem Bären zu tun hat, der überall als glückbringende Figur anzutreffen ist, leider völlig falsch. Trotzdem stolpere ich mit Entzücken in einen anderen „bärenstarken Laden“ rein, das Original-Steiff-Geschäft.
Einem rotzfrechen, faustgroßen Zebra kann ich nicht widerstehen und nehme es gern mit nach Hause.
„Das wird sicher ein Geschenk“, sagt die Verkäuferin, „Ich packe es gleich ein“.
„Nein, kein Geschenk. Meins!“, kommt es aus meinem Mund blitzschnell geschossen. Erst da wird mir bewusst, dass es sich immer noch um Kleinkindspielzeug handelt.
„Packen sie es trotzdem, bitte, ein“, füg ich beschämt hinzu und spaziere dann, stolz wie Oskar, mit meiner blauen Teddytüte aus dem Geschäft. An deren Schnur baumelt mein pures Glück, in Form eines in Seidenpapier eingewickelten Plüschfreundes, der sorgfältig in einem bunten Pappkarton selig sein Schläfchen hält. Wie gesagt, es muss nicht immer Bär sein, das einen, mit oder ohne Knopf im Ohr, an Berlin bindet.
Unzählige „Markenläden“ lassen in Berlin das Herz der Stadtbesucher höher schlagen. Um unnötige Risiken zu vermeiden, mache ich um Käthe Wohlfahrts´ Weihnachtsladen einen großen Bogen, denn Weihnachtsbaumschmuck macht auch mich fast süchtig. Auch der Hausladen der Ritter-Sport Schokolade ist ein gefundenes, süßes Fressen für mich. Dort darf man sogar seine eigene Schokolade kreieren! Ich gebe zu, meine hat etwas zu viel nach Rosapfeffer geschmeckt, aber vielleicht mache ich bald einen neuen Versuch. Was soll´s, mit 3,95 Euro ist dieser Spaß immer noch durchaus erschwinglich.
Auch im Nivea-Laden schlage ich zu und gönne mir ein paar kleine „blaue Wunder“. An meiner Seite lässt sich ein Japaner für seine Unikat-Cremedose fotografieren. Berlin macht so viel möglich!
Dass man sich auch als Normalverdiener mitten im Herzen der Stadt weich betten und ernähren kann, ohne Pleite zu gehen, ist auch typisch Berlin. Wir wohnen praktisch hinterm Ku´damm. Trotzdem herrscht kein übermäßiger Betrieb auf den Straßen. Aus meiner schlauen Lektüre erfahre ich dass die Fläche der Stadt gleich groß wie München, Stuttgart und Frankfurt zusammen ist. Trotz seiner 3,7 Millionen Einwohner, lässt die Stadt niemals zu, dass man sich eingeengt fühlt. Oder vielleicht sind die Berliner im August auch weg, im Urlaub…
„Berlin ist eine leise Welt“ behauptet ein Chinese. Ich staune, aber er hat Recht. Auf jeden Fall hört man auf der Straße viele Sprachen, deutsch allerdings nicht so häufig. Das unangenehme Gefühl, das mich manchmal in flachen Gegenden beschleicht, wo ich mir keine Anhöhen einprägen kann, habe ich hier nicht. Obwohl der höchste Berg Berlins nur 115 Meter hoch ist, kann ich von fast überall die Spitze des markanten Fernsehturms am Alexanderplatz sehen (bei den Berlinern als „Spargel“ bekannt) und mich daran gut orientieren.
In Sachen Spitznamen sind die Einwohner mehr als nur erfinderisch. Die sind fast genial! Neben Spargel oder Goldelse (Siegessäule), sowie Puderdose mit Lippenstift (Neubau an der Gedächtniskirche) spaziert man an der Schwangeren Auster vorbei (Philharmonie), Daimler Bells (Campanile, ein Geschenk von Daimler Benz), IKEA-Haus (Botschaft der Nordischen Staaten), Dolly-Buster-Kindergarten (für Politikerkinder, das Gebäude hat zwei pralle Kuppeln auf dem Dach), Not-so-Big-Ben (Turm des Roten Rathauses), Angelas´ Bügeleisen (CDU-Zentrale), Angelas´ Waschmaschine (Kanzleramt), Spaghetti (Plastik am Ku´Damm, zeigt die verwobenen ehemaligen vier Zonen der Stadt) oder Mount Fuji (Sony-Hochhaus) vorbei.
Klar ist, dass diese Namen auch manchmal boshaft klingen, doch zart und lieblich waren die Berliner noch nie. Eher erfrischend frech. Das wusste sogar Goethe, als er bemerkte, es lebe in Berlin „ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten“. Ein einziges mal besuchte er Berlin, doch das hindert die Berliner überaus nicht daran, ihn und seine Sprüche an jeder Ecke zu vermarkten. Touristisch gesehen, kein schlechter Zug. Wie gesagt, der Berliner ist gewieft und erfinderisch.
Sogar die Politiker machen Pause im August. Die Kuppel des Reichstags und die Vorzeigeräume eines nachgebauten Mini-Europäischen Parlaments kann man trotzdem besuchen. Beim Ausprobieren des komfortablen Parlamentssessels geht meine Lehne nach hinten und klemmt, horizontal. Habe ich da etwas falsch gemacht, oder liegen die Politiker bei der Arbeit lieber, als dass sie aufrecht sitzen? „Det lass ick mal lieba!
Ich gehe raus und lande prompt auf dem … Streifen, um nicht gleich Strich zu sagen. Die handbreite Spur am Boden verläuft dort wo ehemals die Mauer zwischen Ost und West stand. Immer wenn ich sie zufällig wiederentdecke, fühle ich mich ein bisschen ertappt: so unscheinbar und doch so mächtig!
Nachdem meine Mutter in den siebziger Jahren einen Ausflug zu den Genossen in der DDR machen durfte, erzählte sie mit strahlenden Augen, wie sie vom Alexanderplatz-Fernsehturm einen Blick auf Westberlin werfen konnte… Ihre glänzenden Augen sehe ich heute noch vor mir. Nun blicke ich auf den Asphalt und registriere kühl die Bierdeckel und Kaugummireste, die sich zwischen den kleinen quadratischen Steinchen verfangen haben. Ätsch-Bätsch, blöde Mauer!
Meiner Mutter verdanke ich auch die Empfehlung, unbedingt Potsdam zu besuchen. Brandenburgs Hauptstadt hat 170.000 Bewohner und ist älter als Berlin. Manche sagen auch schöner. Zum Beispiel meine Mutter, nachdem sie die sogenannte „Reise ihres Lebens“ absolviert hatte.
Tatsächlich ist es ungerecht, Potsdam in einem Satz mit Berlin zu nennen! Ein Tag hat mir für den Besuch gar nicht gereicht. Also nahm ich mir zwei Tage dafür. Umgeben von Wasser, fasst dieses Juwel alles zusammen, was man sich unter königlichen und kaiserlichen Bauten mehrfacher Generationen vorstellen kann. Zugegeben, auch die zeitgenössische Prominenz, die zwar in Berlin arbeiten geht, aber in Potsdam lebt (zum Beispiel Günther Jauch, oder ein nicht genannter Mitbegründer der Firma SAP) soll kräftig dazu beigetragen haben, dass genug Geld für die Erhaltung und Renovierung der Stadt zur Verfügung stand. Niemals hätte ich jedoch gedacht, dass es möglich wäre, so viel Harmonie zwischen französischem Barock, englischem Tudor-Stil, italienischer Riviera, russischer Verspieltheit, Rotziegel-Grachtenflair aus Holland, böhmischer Bodenständigkeit und preußischem Pomp entstehen kann.
Auch wenn es etwas klischeehaft klingt, ist mein Favorit in Potsdam, genau wie für die meisten Menschen, das „Schloss Sanssouci“. Nicht nur wegen seiner Schönheit, sondern mehr wegen der einmaligen Skurrilität seines Erbauers. Es gefällt mir einfach, dass der Freund von Voltaire, der Aufklärerkönig Friedrich der II. darauf bestand, neben seinen Hunden begraben zu werden. Auf großen Pomp soll er gerne verzichtet haben. Seine Toleranz ging offensichtlich soweit, dass er nicht einmal den Grammatikregeln gebührend Achtung schenkte. Der Satz, der seine Offenheit gegenüber den vielfältigen Religionen beweist, inspiriert heute noch friedliche Gedanken: „Die Religionen müssen alle Tolleriret werden (..) hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden“.
Doch egal als wie sympathisch ich ihn im Moment auch empfinde, auf Gegenseitigkeit hätte ich mich damals gewiss nicht verlassen können, denn Frauen hatten auf Sanssouci keinen Zutritt. Wozu das Komma zwischen „ohne“ und „Sorge“ auf der Fassade seines Schlosses Sanssouci steht, weiß man bis heute nicht („Sans, souci“). Dieses Geheimnis nahm der Philosophenkönig mit ins Grab.
Doch am Gartenzauber der brandenburgischen Hauptstadt konnte ich mich nicht genug begeistern, denn beim Überqueren der legendären „Glienicker Brücke“, bekannt für die geheimen Agentenaustausche während des Kalten Krieges, genauso wie beim Sichten der verbotenen Stadt, die den russischen Geheimdienst beherbergt hat, durchfährt mich ein eiskaltes Schaudern.
Wie gut es tut, sich so selbstverständlich frei bewegen zu können!
Weg von Potsdam, zurück in Berlin wird uns nochmal monumentale Architektur geboten. Besonders in Berlin Mitte, wo früher ein großer Parkplatz voller Wartburgs und Trabis war, wird viel gebaut. Nur noch ein Trabbi, der zu „Stretchpappe“ umgebaut wurde, steht recht einsam da und dient als Luxuskutsche für frisch vermählte Paare. Anstelle des ehemaligen kommunistischen Palast der Republik (Spitzname „Erichs´ Lampenladen“), der komplett abgerissen wurde, entsteht das zugleich alte und neue Stadtschloss.
Umgeben von anmutigen Gebäuden, die in antikem Stil gebaut sind, begreife ich sofort warum die Stadt seit 300 Jahren „Spree-Athen“ genannt wird. Museumsinsel, Humboldt-Universität, Dom, Oper reihen sich aneinander und wirken doppelt schön wenn sie sich in den Flüssen spiegeln. Die frisch gestrichene Opernfassade erstrahlt in preußischem… Rosa, was überraschend souverän aussieht. Seit letztem Jahr soll dank eines neuen aufwändigen Keramikelementes, das an der Decke fixiert wurde, der Klang der Berliner Oper mit den besten Sälen der Welt um den ersten Platz wetteifern.
Unweit befindet sich die Baustelle der neuen U-Bahn, die U5. Auf den Trennwänden, die die Baustelle vom Alexanderplatz abschirmen, sind ungleiche Paare abgebildet, die sich, als Zeichen der Toleranz, entweder umarmen, die Hand geben oder küssen. Ein Pfarrer gibt einem Rocker die Hand, zwei Jungs küssen sich innig auf den Mund. Soll das eine Anspielung auf Berlins Regenbogenmillieu, oder eher ein bewusstes Nachahmen des berühmten Siegelkusses zwischen Breschnew und Honecker andeuten? Als wollte es diesen verwirrenden Eindruck betonen, steigt uns von den Treppen des Roten Rathauses ein merkwürdiges Brautpaar entgegen: der Bräutigam, ein Polizist in Uniform, schlicht und korrekt, hält einer irritierend radikalen Braut das Händchen. Ihr Kleid läßt ihren Rücken komplett frei und darauf ist ein übergroßes tätowiertes Engelflügelpaar zu sehen.
„Du bist verrückt, mein Kind, Du musst nach Berlin“ ist ein Satz, der angeblich vom Komponisten Franz von Suppé stammt. Berlin ist wirklich, in seiner Vielfältigkeit, immer wieder erstaunlich! Bekannt dafür, dass es mehrfach die schlimmsten Diktaturen überstanden hat, ist diese Stadt, egal in welche Richtung, exzessiv und doch heiter, irgendwie. Nicht umsonst behauptete David Bowie einmal, Berlin sei „die größte kulturelle Extravaganz, die man sich vorstellen kann“.
Vielleicht liegt es an der berüchtigten „Berliner Schnauze“, dass ich mich manchmal durch das was hier passiert überrumpelt fühle, und nicht so recht weiß, wie ich es deuten soll. Böse Zungen behaupten sogar, dass man in Berlin, mit etwas Pech, immer noch Busfahrer antreffen könne, die kurz bevor man die Bushaltestelle im Sprint erreicht, einem genüsslich die Türen vor der Nase schließen. Das kann ich nicht bestätigen, unsere waren immer nett, obwohl sie oft wie Inder, Spanier, Vietnamesen, Russen oder Türken aussahen. Es soll ja ungefähr jeder Fünfte hier einen Migrationshintergrund haben.
Berlin macht eine Kunst daraus, Sorgen zu zelebrieren und sie zu überhören („arm aber sexy“, laut Merian-Autor Till Raether). Ich neige dazu, ihm zu glauben, vor allem wenn ich die witzigen Sprüche lese, die die Speisekarte unseres echt berlinerischen Esslokals, das es seit 100 Jahren gibt, schmunzelnd lese. „Jibt dir det Leben eenen Puff, denn weine keene Träne! Lach dir´n Ast und setz dir druff und baumle mit de Beene“.
Vielleicht liegt es an den Latzhosen im Stil eines Zeitungsboten der zwanziger Jahre, die die Bedienung trägt, oder an der Erinnerung an sympathisch-altmodische Filme mit Heinz Rühmann und Hans Albers, oder an der betörenden Stimme Marlene Dietrichs´ dass ich mich hier zu Hause fühle. Mehr als eine Bemme und eine Molle braucht man nicht dazu (belegtes Brötchen und ein Glas Bier).
Auf jeden Fall traf Theodor Fontane das richtige Wort als er sagte: „Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner“.
Bevor ich schließlich zum Ende komme, muss ich noch den Potsdamer Platz erwähnen, denn er prägt mich am meisten. Umgangssprachlich „Potse“ genannt. Ich halte ihn für den perfekten Ort, der die ganze Stadt in sich trägt und perfekt beschriebt. Man glaubt kaum wie auf eigentlich engem Raum, wirklich fast alles was Berlin ausmacht, zusammensteht, und sich doch nicht gegenseitig „beißt“. Ich zähle auf, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: als verkehrsaktivster Platz Europas, mit der allerersten Ampel der menschlichen Geschichte versehen; im zweiten Weltkrieg fast komplett zerbombt; nach 1961 jahrzehntelang dem Scheintod überlassen, wegen des groben Schnittes der Mauer, die mitten durch sein Fleisch verlief; heute mit den modernsten Wolkenkratzern ausgestattet, die direkt an die grauen DDR-Plattenbauten angeschlossen sind; mit einem Berlinale-Filmpalast, der weltweit jährlich Glamour ausstrahlt, der sonst nur noch in Hollywood zu sehen ist; Schauplatz gigantomaner Shows, wie Pink Floyds legendäres „The Wall“, gleichzeitig aber auch ein raues Pflaster, besonders da wo sich pfiffige Designer, Köche, Galeristen, mit viel Kampfgeist gegen den Druck der Gentrifizierung währen; Feinstaubbelastung, Straßenstrich und wunderbar klassizistischer Bundesrat, gepaart mit rein kapitalistischem Kaufrausch, in der zweiflügeligen Mall, die die ehemalige Mauertrennung überspannt; Topographie des Terrors (Verbrechen der Nazi-Zeit, kommunistische Unterdrückung, Jüdisches Museum); Armut und Reichtum, Alt und Neu, friedlich und kämpferisch, bunt und schlicht, schrill und bescheiden, keusch und rebellierend, lupenrein sauber paart sich hier mit drogenabhängig, schön und hässlich stehen nebeneinander, all diese Gegensätze treffen sich hier punktgenau. Trotz alldem platzt er nicht aus allen Nähten, sondern pulsiert vor sich hin wie eine schnurrende Katze, gefährlich und verschmust zugleich.
Vom Hunger geschwächt landen wir regelmäßig in Lokalen, die genau das tun was sie versprechen: „jesund und satt“ – machen. Auch wenn man es kaum glaubt, sogar das Essen manch eines Sternegastronomes kann man sich leisten. Wehe aber wenn man die Reservierung kurzfristig absagt! Dann kriegt man eine Lektion am Telefon verabreicht, wegen der grundlos verschwendeten Zeit und der unbeachtet gebliebenen Mühe, mit Liebe zum Detail. Besonders einer bleibt mir im Gedächtnis, der sich wie vor zwei Jahrhunderten kleidet und nichts, aber auch gar nichts auftischt, was nicht direkt in Deutschland gedeiht und momentan Saison hat. Ohne Pfeffer, Olivenöl oder Zitronensaft kommt manch ein Sellerie viel besser auf dem Teller und auf der Zunge an, als die teuerste Trüffel! „Als hätte jemand das Lieblingsgericht der Kindheit von allem Unnötigen befreit und dann den Geschmackregler hochgedreht“, steht im der Empfehlung meines Merian-Heftes. Der Gastronom der sich das traut, scheut auch nicht die Direktheit, die von seinem Türschild ausgeht. Darauf steht schlicht und einfach: „AfD-Wähler nicht erwünscht“. „Pyramidabel“ würde man das auf rein Berlinerisch kommentieren!
Doch an Edgy-Typen fehlt es der Global Darling-Metropole nicht, denn es tummeln sich Exoten in den Restaurantküchen, die sich trauen, sogar „Dosenfutter“ aufzutischen (zum Beispiel ausschließlich Delikatesssardinen aus 120 Betrieben weltweit), oder die sich ausschließlich auf EIN GERICHT spezialisiert haben, wie roher Keksteig, wie in Kindheitszeiten (in Eisbecher wird er zum Löffeln überreicht). Nicht zu vergessen das ganz neu entdeckte alte Bier, diesmal begleitet von „Gemüsesatt“. Doch die lange Liste der „Gastronomique“ überlasse ich meinem bereits erwähnten Reisemagazin.
Und wenn alle Stricke reißen und es zu spät wird um noch auszugehen, sind immer noch diese ostalgisch angehauchten Spätis da, wo man schnell etwas kaufen kann. Ein Relikt aus der Zeit, als Schichtarbeiter noch etwas schnell holen konnten, stehen die Spätis jetzt sogar im DUDEN. Verdient haben sie es allemal.
Auf den letzten Drücker, am letzten Tag, entdecke ich in unserer Nähe, etwas das man zu Unrecht als Shopping-Center bezeichnet. Das Bikini-Center eröffnet mir das Concept-Store-Prinzip im Großen, etwas was wahrscheinlich in naher Zukunft die Tradition der mittlerweile allerseits bekannten Malls vom Sockel stoßen wird. Mit Pop-Up-Läden, Start-Up-Büros und – Geschäften, die sich immer wieder abwechseln, jungen Designern, die auf faire Materialien und gesunde Zutaten achten, mit netten Überraschungen um jede Ecke (Schaukeln, für kurze Entspannung oder für eine interessante Lektüre), mit gesundem, langsam aber vollwertig vorbereitetem Essen und nicht zuletzt mit der durchsichtigen Etage, von der man in den benachbarten Zoo hineinschauen kann, zieht das Bikini-Center sofort jeden auf seine Seite. Heißt aber nicht dass das Fast-Food ihren Siegeszug in der Stadt nicht weiter fortsetzt. Die Currywurst gibt es ab sofort auch ohne Pelle und den Döner vegan. Der Gegenspieler des Va Piano heißt dann ganz einfach Va Veloce.
Obwohl wir wissen, dass am nächsten Tag das Kanzleramt und das Schloss Bellevue Tag der Offenen Tür haben, müssen wir auf einen möglichen Besuch dort verzichten. Es wird für uns Zeit abzureisen, doch weggehen erscheint nicht unbedingt nötig, wenn man den Worten eines lokalen Autoren glaubt: „in Berlin kann man durch die Zeit reisen, indem man einfach sitzen bleibt“ (Zitat, Alexander Osang). Trotzdem ruft uns Spanien aus der Ferne.
In der letzten Nacht träume ich von der Berlinerin, die ich seit meiner Kindheit für die schönste der Welt halte, Nofretete, und von den zwei süßen und einzigen deutschen Pandabärchen, Träumchen und Schätzchen, für die ich leider keine Zeit hatte, obwohl ich ganz in ihrer Nähe übernachtete.
Erst als wir wieder einmal, fernab der Hauptstadt einen ehemaligen Grenzübergang auf der Autobahn passieren, wird mir bewusst, dass ich von nun an eine Zeit lang das grüne Ampelmännchen mit Hut nicht mehr sehen werde und mich beschleicht langsam der Gedanke, dass ich eigentlich immer noch keene Ahnung habe.
Berlin, ick liebe dir!
Gabriela Sonnenberg
Spanien, September 2018