Johan Galtung
„Der Friedensforscher“
Als er noch unermüdlich um die Welt reiste, kursierte unter Akademikern die Anekdote der zufolge, wenn man in ein Flugzeug steige und das Klappern einer Schreibmaschine hörte, wahrscheinlich Johan Galtung an Bord sei. Es waren Zeiten in denen die Antwort auf die Frage „wo befindet sich Galtung jetzt“ einfacher zu beantworten war als die Aufgabe der Physiker die Position eines Elektrons zu bestimmen.
Heutzutage, im Computerzeitalter, muss der Professor nicht mehr reisen um seinen Tätigkeiten als Berater, Buchverfasser und Konfliktlöser nachzugehen, aber er tut das trotzdem, in etwas gemäßigterem Rhythmus. So kam es, dass sich neulich die seltene Gelegenheit ergab, ihn inmitten eines deutschsprachigen Publikums an der Costa Blanca begrüßen zu dürfen. Gestützt auf seinem außergewöhnlich universell angesammelten Wissensreichtum und seiner über fünfundachtzigjährigen Erfahrung, gab der berühmte Norweger eine Kostprobe seiner umfassenden Denkweise und eröffnete einen kurzen Einblick in die Zukunft. Denn Johan Galtung ist nicht nur als Soziologe, Politikwissenschaftler, Mathematiker, Anthropologe und Historiker bekannt. Im Laufe seiner glänzenden Karriere hat er oft bewiesen, dass er die tiefsten Zusammenhänge der Geschichte der Menschheit aufspüren und deuten kann. Spätestens seit seiner verblüffend genauen Vorhersage des Berliner Mauerfalls wird er in Insiderkreisen als zuverlässiger Zukunftsforscher anerkannt und gewürdigt.
Man kann nichts von dem was Johan Galtung macht in wenigen Sätzen zusammenfassen. So kommt es auch, dass sich jedes Gespräch mit ihm wie ein reger Gedankenaustausch gestaltet, dessen Schwerpunkt von einem Thema zum anderen hin und her springt und oft außerhalb unserer konventionellen Gedankenmuster landet. Auf der Suche nach echten, nicht leichtfertigen, sondern tiefgründigen und fundierten Antworten, ermutigt er alle, sich nicht zu scheuen und an fest eingefrorenen Meinungen, die meistens durch Einwirkung der Medien unmerkbar gelenkt werden, zu rütteln. So kommt es, dass man zuweilen das Gefühl hat, jeder seiner Sätze sei mehrschichtig aufgebaut. Auf keinen Fall wünscht man sich, auch nur versehentlich, eine dieser „Zwiebelhäute“ der komplexen Wirklichkeit zu übersehen.
Doch zurück zu unserer… Zukunft. Wie sieht denn die Welt durch die Augen eines dermaßen gut informierten und erfahrenen Wissenschaftlers aus? Natürlich, stets in Bewegung und erstaunlich positiv, trotz besorgniserregender Ereignisse, die uns allen momentan ziemlich viel Kopfzerbrechen bereiten. Das sind Störfaktoren, meint er, Sand im Getriebe eines Prozesses, der die Geschicke unseres Planeten auf lange Sicht unfehlbar in die richtigen Bahnen lenkt, egal ob es uns gefällt oder nicht.
Natürlich stellte ihm das Publikum jede Menge konkrete Fragen, einige davon fast rührend, denn man kann schließlich von niemand erwarten, mit hundertprozentiger Sicherheit die Zukunft der Kanzlerin, den Bestand der EU, oder das Verfallsdatum der USA zu nennen. Jedoch sind uns viele wichtige Eckdaten über die langfristigen Überlebenschancen der Demokratie nach westlichem Muster, die Flüchtlingswelle, oder wie ernst man den Gerüchten über den Untergang der nordamerikanischen Weltmacht glauben sollte, geblieben.
Er sagte auch, dass die Lebensqualität der Nordamerikaner seit den neunziger Jahren rasant abgenommen hätte; sie leben im Durchschnitt ca. 5-6 Jahre weniger als früher. Das sei ein Zeichen für die schwindende Lebensqualität und Abhängigkeit des Volkes vom Staat, ein Zustand der unweigerlich eine große Krise eines jeden Imperiums ankündigt. „Ich liebe die amerikanische Republik, aber ich hasse das amerikanische Imperium”, ist ein bekannter Satz von Johan Galtung, der die durchaus gewaltigen Interventionen der Nordamerikaner in verschiedenen Konflikten weltweit als gravierende Bedrohung des Friedens sieht. Seiner Meinung nach ist dies eine subtile Form des modernen Kolonialismus, in alter Tradition der Großmächte vergangener Jahrhunderte. Ob im Namen des katholischen Glaubens, oder im Namen der Demokratie, täuschen kann man sich trotzdem, auch wenn man sich im guten Glauben wähnt.
Es geht also wirklich bergab… Auch Europa hat Probleme, doch Galtung war da eher optimistisch. Die EU würde diese neue Völkerwanderung „überleben“, aber auf diese Wortwahl bestand er; schließlich haben wir es mit weitaus mehr als einer einfachen Flüchtlingswelle zu tun. Seiner Schätzung nach kommen noch ca. 50 Millionen Flüchtlinge hierher, und die wollen sich gar nicht gern anpassen, haben Forderungen, und möchten für den Raub ihrer natürlichen, heimatlichen Umgebung entschädigt werden. Bewegende Zeiten!
Johan Galtung erinnerte uns daran, dass im Laufe der Geschichte, die ersten Plätze in der Rangliste der kriegsführenden Nationen nachweislich den USA, den Briten, Israel und der Türkei (früher Ottomanen) gehören. Deutschland platziert sich nicht einmal unter den ersten 10, obwohl sich die Deutschen ständig schuldig fühlen und sich immer wieder für den Zweiten Weltkrieg rechtfertigen. Manchmal ist das Trauma der Peiniger schlimmer als das Trauma der Opfer, meinte der weise Norweger, doch das kommentierte er nicht weiter…
Die Frage nach der möglichen Bedrohung durch einen sogenannten Dritten Weltkrieg beantwortete er mit großer Sorgfalt. Er machte uns darauf Aufmerksam, dass der Begriff „Weltkrieg” mittlerweile inhaltslos sei, denn die Konflikte tragen sich bereits auf Ebenen aus, die uns gar nicht mehr als sichtbare „Kriegserscheinungen” zugänglich sind. Als Gründer der Theorie der Strukturellen Gewalt, blickt Johan Galtung auf eine ernüchternde Bilanz der verdeckten Konflikte zurück, die uns deutlich machen, dass viel mehr Menschen täglich an den Folgen der versteckten Gewalt scheitern, die nicht durch Waffen, sondern durch wirtschaftliche Sanktionen, Mangel an sozialer und medizinischer Assistenz, keinen Zugang zu Bildung und schlicht und einfach Verarmung oder Hunger verursacht werden. Deren Anzahl steigt ins Besorgniserregende, speziell in den modernen, weitentwickelten, westlichen Staaten, und nicht in den ärmeren Ländern, wie man es vielleicht auf den ersten Blick erwartet hätte.
Ein paar Regeln, die man bei der Lösung von Konflikten anwenden kann, sogar in privaten Lebensbereichen, gab er uns noch mit. Nämlich dass man unbedingt mit allen Konfliktparteien reden muss, und zwar separat, egal ob man ihnen zustimmt oder nicht. Man muss einfach jedem zuhören, um heraus zu finden welche Vorstellung er von der Endsituation hat. Nicht die Kritik am Gegner, also nicht die Hasskappe, darf uns beschäftigen, sondern die konkreten Details der gewünschten Zielsituation. Das sind die Ausgangspunkte bei der Verhandlung eines Friedensprozesses. Der nächste Schritt ist dann das Entwerfen einer Vision, in der man möglichst allen Beteiligten Zugeständnisse macht. Kompromisse schließen sei wichtig, das ahnten wir schon, doch dass erst ab da die Arbeit an die Verwirklichung dieser Vision beginnt ist auch bittere Wahrheit. Im Moment arbeite er aktiv an der Schlichtung zwischen Islamischen Staat und dem Westen mit. Eine gewaltige Zielsetzung…
Selbstverständlich argumentierte man, dass manche Kriegstreibende gar nicht an Gesprächen interessiert seien, oder dass es in der Geschichte nicht nur „gute“, sondern auch „schlechte“ Visionen gab, die von Diktatoren oder Tyrannen knallhart verwirklicht wurden. Spätestens da, beim „Guten“ und „Schlechten“, beim schwarzweiß- und „richtig-oder-falsch-denken“ erkannte man den tieferen Sinn der Überlegungen Johan Galtungs: nämlich dass wir uns von der Prägung durch eindeutige Denkmuster lösen müssen und nicht mehr die Welt in Positiv und Negativ sortieren dürfen.
„Es gibt keine bösen Menschen, es gibt aber böse Ideen. Eine böse Idee ist, dass es böse Menschen gibt“, sagt der Professor, der nachweislich an mehr Universitäten als jeder andere Professor weltweit unterrichtet hat.
Wenn es uns gelingt, die brauchbaren Bestandteile des vermeintlich Bösen zu entdecken und die nicht ganz so optimalen Seiten des vermeintlich Guten auszuschließen, dann können wir daraus etwas machen, was wirklich allen zu Gute kommt. Wir müssen keine einseitige Lösung durchboxen, nur weil wir überzeugt sind, dass sie die richtige sei. Weil diese gewaltlose, friedliche Lösung eines jeden Konfliktes einen Namen tragen muss, lasst uns es „Gut“ heißen.
„Findet das Gute und verbindet es“ ist der Schlüssel den uns Johan Galtung als Motto mitgab, bevor er sich mit seinem charmanten, geheimnisvollen Lächeln in seine Welt zurückzog. Eine Welt, in der man nicht bloß von Harmonie träumt, sondern tatkräftig, mit einer unglaublichen Energie, Menschen verbindet und Konflikte auf höchstem Niveau schlichtet, um durch aktives Vermitteln „Frieden für uns alle“ zu ermöglichen.
Johan Galtung an der Costa Blanca
Erschienen in: Costa Blanca Nachrichten 24. März 2016