Verbunden durch Entfernung
Verbunden durch Entfernung und Verschrieben sind zwei meiner Texte, die ich anlässlich des „Encuentros“-Festes las.
Laut Bernoulli-Gleichung nähern sich zwei Papierblätter, sobald man Luft dazwischen bläst. Seltsam, denn auf dem erstem Blick erwartet man eher, dass sie voneinander driften. Abstand der verbindet? Klingt paradox, jedoch, dank der Bewegung, passiert es.
Distanz wirkt sich seltsam aus. Auch auf den Mensch. In der Ferne fehlt uns die alte Heimat. Doch wer sich zurückzukehren traut, wird oft mit Argwohn betrachtet. Warum es so wichtig ist, irgendwo hin zu gehören, weiß keiner so genau, denn, wie die zwei Blätter die sich im Luftstrom bewegen, fließen auch wir hin und her, je nach Umweltbedingungen. Zumindest gedanklich.
Nicht anders als Bernoullis´ Blätter, wandern dann unsere Gedanken von Ort zu Ort. Auf Papierblätter festgehalten, wirken sie wie denkende Zellulose…
Wer weiß, vielleicht wird uns später jemand aus der Zukunft im Rückblick betrachten und sich wundern, wie naiv wir doch damals waren, Anfang des dritten Millenniums, als wir mit einem Fuß schon auf der Schwelle zur nächsten Dimension standen. Trotzig hielten wir an dem Glauben fest, Elemente einer stabilen Welt zu sein. Dabei waren wir schon längst, wie jeder Körper, sowohl Partikel, wie auch Schwingungen, die eifrig hin und her pulsierten.
Leben mit Doppelboden
Kennen sie Schrödingers´ Katze? So heißt ein wissenschaftliches Experiment, das uns beweist, wie unterschiedlich die Welt sein kann, je nachdem wie man sie betrachtet. Ob die Katze tot oder lebendig ist, entscheidet sich allein durch unseren Blick in die Box, in der sie sich befindet. Dafür müssen wir aber den Deckel lupfen.
Ich bin die „Auswandererkatze“, meine Box heißt „Ausland“. Da drinnen habe ich meine Sachen gepackt: Werte, Ansichten, Vorprägungen, Regeln, Glaube. Und mich natürlich auch.
Ab und zu hebe ich den Deckel und schaue raus. Ich bin nämlich eine neugierige Katze, sonst wäre ich nicht da drin. Zur Hälfte drin, zur anderen draußen. Noch muss ich mich entscheiden, mit welchem Land ich gehe.
Eins steht fest, es sitzt sich schlecht in Schachteln. Man ist nicht einfach drinnen oder einfach draußen. Das wäre eine sehr ungenaue Abstraktion! In Wirklichkeit ist man beides. Gleichzeitig.
Eine unbequeme Lage! Ich schaue lieber schnell einmal nach, wie die Anderen das handhaben. Was ich sehe ist, dass man in und mit mehreren Ländern zusammenlebt. Geboren wird man in einem Land, geschult in einem anderen, man arbeitet für ein drittes, und wird aus einem vierten Land bezahlt usw.
Im perfekten „Nationen-Patchwork“ verlassen Brüder ihre Eltern und ziehen zusammen. Zum Beispiel wohnt ein Syrer, dessen Mutti-Heimatland ihn schlecht behandelt hat, bei seinem Glaubensbruder in der Nachbarschaft, in der Türkei. Doch auch Brüder können sich in die Haare kriegen (Flamen und Wallonen, Schiiten und Sunniten, Hutu und Tutsi) und auch andere Eltern können Fehler begehen. So im Fall eines Amerikaners, der vor seinem autoritären USA-Vater, der ihn in den Krieg schicken wollte, geflohen ist und jetzt bei Tante-Kanada gelandet ist. Kanadier hingegen, können auch von Ihrem Mutterland gelangweilt sein und sich nach Großmutter Europa sehnen. Manche setzen dann zu Cousin Frankreich über. Verrückte Familie, die rücken wortwörtlich immer hin und her!
„Na dann“, denke ich mir, „muss ich doch kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn ich in einer Trickbox wohne“. Die hat nämlich wirklich einen Trick, besser gesagt mehrere, denn während ich mich darin verstecke, verheimliche ich etwas: meine Box hat einen Doppelboden! Und als ob das nicht genug wäre, hat dieser Doppelboden selbst auch einen Doppelboden, und der hat einen weiteren Doppelboden usw. Tja, da wird einem richtig schwindlig!…
Wie gut, dass Heimat nicht mehr ist, was es einmal war. Heute gibt es alternative Heimaten, alternative Familien, alleinerziehende, Gleichgeschlechtige, Wohngemeinschaften, Lebenshäuser, Heime. Nicht nur schwarz und weiß, Mutter und Vater, Heimat oder Vaterland. Wie gut, dass jeder sich seine beste Box aussuchen kann! Doch hoppla, nicht so schnell hin und her springen! Es besteht Rutschgefahr!
Ich, zum Beispiel, als „In-Spanien-lebende-Deutsche-rumänischen-Ursprungs“, muss mir trotzdem nicht drei Seelen in die Brust verpflanzen. Als Einheit dreier Bestandteile: Leib (in Spanien), Herz (in Rumänien) und Kopf (in Deutschland) fühle ich mich in meiner ganz persönlichen „Schrödinger-Box“ ganz wohl. Wohlgemerkt, als Katze, nicht als Wissenschaftler, der das Experiment durchführt, denn der Deckel lupft sich sowieso ohne mein Zutun.
Als Bewohnerin meines „Dreiländerecks“ achte ich also stets darauf, dass mein Leib mit Herz und Kopf verbunden bleibt. Ob das mehr drinnen oder mehr draußen passiert ist eigentlich einerlei, denn wenn ich in Bewegung bleibe überlappen sich meine Bernoulli-Blätter ganz gut.
lesen Sie auch: